http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0765
754 Psyohisehe Studien. XXIX. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1902.)
Geistesleben, welche darauf hinausgehen. Vor allem wird
herbeigeführt ein religiöses Genie. Religionen werden als
solche zwar nicht gegründet; religiöse Genies in dem Sinne,
wie es wissenschaftliche und künstlerische Genies giebt, giebt
es daher nicht, wohl aher solche Persönlichkeiten, welche
den Erkenntnissinhalt ihrer Zeit als religiöses Empfinden
aussprechen. Mir trat in Ännie Besaut eine Persönlichkeit
entgegen, die ich als ein solches religiöses Genie erkennen
möchte*) Auch sie ist hervorgegangen aus der
modernen Naturwissenschaft, sie hat früher in England in
sozialistischen Arbeiterkreisen die deutschen Materialisten
interpretirt. Sie hat alle Leiden der Erkenntniss kosten
müssen und seit einigen Jahren ist sie iv der englischen
Welt die grösste Rednerin, die religiöses Empfinden in
diesem theosophischen Sinne aussprechen kann. Ich kenne
die grossen Mängel und Fehler der theosophischen Bewegung
durchaus; Duboc hat die Theosophie eine „weibliche
Philosophie" genannt Das können wir ändern, indem
wir sie im kritischen Deutschland zu einer männlichen
machen.
Ich weiss, dass es kein Heil ausserhalb der Naturwissenschaft
geben kann, aber wir müssen neue Methoden der
Seelenforschung auf naturwissenschaftlicher
Grundlage finden, um das zu können, was alle alten
religiösen Anschauungen vermochten: eine grosse Einheit
zwischen religiösem ßedürfniss und Wissenschaft
herzustellen. Theosophie in dem von mir gekennzeichneten
Sinne hat an sich nichts zu thun mit den oft
damit zusammengeworfenen Berichten über Thatsachen des
Hypnotismus und Somnambulismus; ja, man könnte diese
ablehnen und doch ein Theosoph sein, aber diese Erscheinungen
des abnormen Seelenlebens sind durchaus nicht abzulehnen
und in der besonders von französischen und englischen Gelehrten
unternommenen naturwissenschaftlichen Auslegung
dieser Thatsachen sehe ich die ersten tastenden Versuche
einer wirklichen Seelenforsehung. —
Herr Dr. Steiner schloss seinen programmatischen Vortrag
mit dem Hinweis auf ein Bild des Belgiers* Wiertz
*) Diese wunderbar begabte Frau, eine der edelsten und geistig
hochstehenden ihres Geschlechts, hat als Vorkämpferin der theosophischen
Bewegung im Sinne einer naturwissenschaftlich begründeten
spiritualistischen Philosophie jüngst (Ende Oktober) auch in
Berlin einen mit viel Beifall aufgenommenen öffentlichen Vortrag
gehalten, der, wie wir hören, die Gründung eines deutschen Organs
dieser Bichtung in einer von dem Vortragenden zu leitenden neuen
Zeitschrift zur Folge haben wird. — ü e d.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1902/0765