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?58 Psychische Studien. XXIX. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1902.)
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beständige Angst vor Attentaten kommt hinzu; sie hat
den vorigen Zaren mit 49 Jahren in das Grab gelegt; sie
war zu viel für seinen begabteren, aber in keiner Hinsieht
robusten Sohn. Angeblieh ist Nikolaus IL jetzt Spiritist
geworden. Er umgiebt sieh mit Medien, er veranstaltet
spiritistische Sitzungen bei sieh, er ist schon gelegentlich
ganz von selbst in magnetischen Schlaf gefallen. Diese
Experimente leitet ein Franzose „M. Philippe", und sein
Einfluss auf den Selbstherrscher ist angeblich unbegrenzt.
Vor einiger Zeit empfing das Haupt der r issischen Geheimpolizei
in Paris plötzlich den Abschied; die Massregel überraschte
im höchsten Grade, weil in seiner Hand die Fäden
der gesammten russischen Geheimpolizei ausserhalb des
Riesenreiches zusammenliefen und er mehrere Verschwörungen
entdeckt und vereitelt hatte. Was war die Ursache?
In einem Privatbrief an den Zaren hatte er mitgetheilt,
dass M. Philippe früher Mitglied der ersten Pariser Gesellschaft
gewesen, in dieser aber durch finanzielle Schwindeleien
unmöglich geworden sei. Der Zar gerieth in grossen Zorn,
und diejenigen Mitglieder des Hofes, die sich des französischen
Spiritisten für ihre Zwecke bedienten, bestärkten den
Selbstherrscher in seiner Entrüstung; so wurde der Chef
der Geheimpolizei in Paris geopfert.
Die Art der von jener Seite auf Nikolaj IL geübten
Beeinflussung wird folgendermassen geschildert: Der Spiritist
beschwört den Schatten Alexanders IIL, und der Sohn
fragt den Vater um Rath; in der jüngsten Zeit soll er
keinen Regierungsakt ohne diese Rathserholung vollzogen
haben. Die Aufregung bei diesen Besprechungen verschlimmert
das Befinden des Monarchen; sie erschöpft ihn
geistig noch mehr, und man soll bei Hofe einen völligen
intellektuellen „Krach" befürchten. Man spricht angeblich
bereits von Regentschaft oder Thronwechsel. —
Die vorstehenden Angaben entstammen finnländischer
Quelle. Man ist in jenen Kreisen stets über den russischen
Hof vorzüglich unterrichtet, aber freilich ist man dort feindselig
gegen den Zaren gesinnt, der nirgends in seinem
weiten Reich die Hoffnungen so grausam enttäuscht hat,
wie in dem vormals selbsständigen Grossfürstenthum. Augenscheinlich
sind die Angaben hier und da stark übertrieben,
aber wie jene finnliindische Quelle selbst sagt: wo die laute
Mittheilung unmöglich ist, wird geflüstert, und das Geflüsterte
ist schlimmer, als was laut geredet werden könnte.
Rein aus der Luft gegriffen sind die Mittheilungen jedoch
sicher nicht. Das Haus Holstein-Romanow hat mehrere
Mystiker gezählt; man denke an Alexander den seine
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