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Der „Geisterseher" in Livadia.
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Umgebung mittelst religiöser Schwärmerei nach ihrem Willen
lenkte; auch sein nüchterner Bruder Nikolaus I. war nach
den Niederlagen im Krimkrieg schwermüthig und soll sein
Ende beschleunigt haben. Daneben sind in der Ahnenreihe
des jetzigen Zaren auch noch andere Beispiele zu finden;
man eitsinne sich des gut veranlagten, aber verwahrlosten
preussischen Friedrich Wilhelm IL, auf den in seinen letzten
Jahren politisch und religiös gleichfalls durch Geisterspuk
eingewirkt worden ist. Für das Vorhandensein solcher
Neigungen bei dem jetzigen Zaren spricht besonders die
Angabe von der Konsultirung seines verstorbenen Vaters;
man weiss, dass er am 29. Januar 1895 das Gesuch der
Adelsdeputation um bescheidene konstitutionelle Einräumungen
zwar ungnädig abwies, aber mit zitternder Stimme
und verweinten Augen, nachdem ihn seine Mutter drohend
an den Willen des Allerhöchstseligen und das diesem gegebene
Versprechen erinnert hatte. Jetzt ist die dänische
Maria Feodorowna durch die hessische Schwiegertochter
hinausgebissen worden; aber die Furcht vor dem Zorn des
Vaters scheint fortzuwirken und die weichmüthige und
mystische Naturanlage des jungen Herrschers noch weiter
zu entwickeln. Man braucht wirklich keine republikanische
Gesinnung zu hegen, um zu finden, dass der Absolutismus
bei seinen Trägern auf die Dauer derartige Gemütszustände
überall hervorgerufen hat und hervorrufen muss, besonders
auf einem Boden wie dem russischen. Etwas ist entschieden
an der Sache, auch dieser Rauch ist nicht ohne Feuer entstanden
. Wie weit sich das Leiden ausgedehnt hat, ob es
heilbar ist oder in eine Katastrophe ausläuft, wird die Zukunft
zeigen müssen." — Jedenfalls aber muss obige Darstellung
, deren Verantwortung wir selbstredend der genannten
Zeitung überlassen müssen, mit um so grösserer
Vorsicht aufgenommen werden, als in anderen Tagesblättern
zu lesen war, der erwähnte Psychiater sei zu der Czarin
beschieden worden, die infolge der abermaligen Vernichtung
ihrer sehnlichen und diesmal begründeten Hoffnung
auf einen Thronerben durch einen unglücklichen Fehltritt
in einen begreiflichen Zustand tiefster seelischer Depression
gerathen sei, in welchem sie Tagelang, ohne ein Wort zu
sprechen, vor sich hinbrüte und jede Zerstreuung ablehne.
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