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Karze Notisen
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folgende Zuschrift: — „Ich war etwa achtzehn Jahre alt,
da lernte ich einen in hiesiger Stadt sehr beliebten Arzt
kennen. Er unterhielt sich gerne mit mir, fragte nach
meinen Bestrebungen, theilte mir allerlei Interessantes aus
seinem inhaltsreichen Leben mit, auch sprach er manchmal
über religiöse Anschauungen. Ich gestand ihm, dass ich
gerne Schriftstellern würde; er rieth mir aber ab: es sei
dies ein undankbares Geschäft, jedoch solle ich jeden mir
werthvoll erscheinenden Gedanken sofort notiren . . . Der
gewandte alte Herr konnte sehr fesselnd sein in der Unterhaltung
; obwohl er zum Komiker geboren schien, verstand
er doch auch Tiefernstes mit Würde und Anmuth zu behandeln
. So deutete er einmal gegen den Himmel und
meinte: „Dereinst werden wir uns auf irgend einem Sterne
wiedersehen." Ein anderes Mal erklärte er: „Ich glaube
nicht, dass sich Gott um eine jede Kleinigkeit in unserm
Leben kümmert; dass aber bei grossen Wendungen der
menschlichen Geschicke eine höhere Hand sich einmischt,
das habe ich selbst in meiner Praxis oft erfahren und unleugbar
deutlich erkannt." —
In ähnlicher Weise, wie er mir hierbei Wahrheit und
Irrthum zu vermengen schien, stand er auch andern wichtigen
Fragen des Seelenlebens mit einer gewissen Unklarheit
gegenüber. Wollte er nicht weiter nachdenken, so
fand er dazu, was allerdings recht wahrscheinlich klang,
nicht genügend Zeit; er hatte nämlich bisweilen siebzig Besuche
im Tage abzustatten, wobei auch viele Arme mit
derselben liebevollen Rücksicht behandelt wurden wie die
reichsten seiner Patienten; seine Barmherzigkeit kannte in
dieser Hinsicht oft keine Grenzen.
Dieser von mir hochgeschätzte Arzt starb vor etwa
15 Jahren, und jetzt werden es gerade zehn Jahre sein —
ich dachte nur mehr wenig an ihn, meine Arbeiten nahmen
mich vollauf in Anspruch —, da ward ich am zweiten Tage
im November (Allerseelentag) lebhaft an ihn erinnert. Es
war am frühen Morgen, ich schrecke plötzlich mit einem
furchtbaren Schrei aus dem Schlummer empor; meine
Schwester, welche in demselben Zimmer anwesend war,
fragt in ihrer gewohnten ruhigen Weise: „Warum schreist
Du denn so?" Ich antworte: „Der Hofrath war soeben
da, er war so traurig anzusehen, die Stirne gelb mit Auswüchsen
daran; — er hat mir zugerufen: Trachte nach dem
Ewigen, das Irdische vergeht/* Es umgab ihn etwas Geheimnissvolles
, Erschütterndes — oder besser gesagt dieser
mächtige Eindruck schien von ihm auszugehen. Mir schien,
seine Gestalt sei über dem Boden etwas erhöht; haupt-
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