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Hellpaoh: Hysterie und Nervosität.
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nennt, ist eine Temperaments- oder Charakteranlage des
Weibes, die mit dem pathologischen Prozess der Hysterie
nur selten etwas zu thun hat, deckt sich im wesentlichen
mit den Eigenschaften der Launenhaftigkeit, der Ueber-
spanntheit, der Empfindsamkeit. Leider sind auch die
Kenntnisse vieler Aerzte von der Hysterie nicht viel besser
bestellt Die Grenze zur Nervosität hin gilt ihnen als
fliessend, findet nicht ihre volle Aufmerksamkeit. Und doch
ist gerade sie so ausserordentlich scharf herausgearbeitet.
Es kann schwer, es kann sogar unmöglich sein, beginnende
Geisteskrankheiten als nicht hysterisch oder nicht nervös zu
erkennen, da z. B. die Katatonie, mit der Hysterie zahlreiche
verwandte Momente verbinden, die paralytische Demenz völlig
als schwere Nervosität beginnen kann» Eine Verwechselung
zwischen Hysterie und Nervosität aber ist heute schon durch
nichts mehr zu entschuldigen.
„Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften Veränderungen
des Körpers, die durch Vorstellungen verursacht
„sind.*4 Diese Begriffsbestimmung, die Möbius der Hysterie
gegeben hat, erschöpft die Eigentümlichkeit dieser Geisteskrankheit
nicht. Das leicht irreführende Wort „Vorstellungen"
hat Möbius allerdings später dahin ergänzt, dass es sich um
Vorstellungen in Verbindung mit Willensantrieben handele.
Was aber jener Definition fehlt, ist die Einbeziehung der
psychischen Veränderungen, die der Hysterie eigentümlich
sind. Zweifellos können dieselben im Vergleich zu den
körperlichen Erscheinungen sehr geringe, wenig ins Auge
fallende sein; dennoch fehlen sie wohl niemals ganz. Ich
möchte vielmehr die nachstehende Bestimmung der Krankheit
vorziehen: „Die Hysterie ist ein psychischer Zustand,
„in dem die sensorische wie die motorische Reaktion auf
„Eindrücke und Erinnerungen höchstgradig gesteigert erscheint
, während die affektiven Reaktionen in Folge einer
„zwischen ihnen und ihren Aeusserungen bestehenden Disproportionalität
sich unserer Kenntniss entziehen." Nehmen
wir ein einfaches Beispiel: ein Tropfen heissen Siegellacks
fällt mir auf den rechten Handrücken. Die sensorische
Reaktion darauf ist eine heftige Schmerzempfindung. Die
motorische wird zumeist in schmerzhaften Ausdrucksbewegungen
des Gesichts, vielleicht verbunden mit Thränen-
absonderung, bestehen. Stösst einem Hysterischen dieser
kleine Unfall zu, so bekommt er als motorische Reaktion
Personen* bezeichnet zu werden pflegen, so dürfte es für unsere
Leser von besonderem Interesse sein, das von so berufener Feder genau
gezeichnete Krankheitsbild der Hysterie vor allem einmal näher
kennen zu lernen. — Red.
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