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16 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1903.)
eine Lähmung des rechten Armes, als sensorische eine hand-
schuhförmige Anästhesie. Wie aber der durch den Unfall
erzeugte Affekt sich verhält, wissen wir nicht; denn obgleich
jene Reaktionen auf seine höchstgradige Steigerung hinweisen
würden, lehren uns doch zahlreiche Erfahrungen, dass bei
der Hysterie die Affektäusserung dem Aftekt selber durchaus
nicht proportional zu sein braucht, also auch auf seine Stärke
und (Qualität keinen sicheren Rückschluss gestattet. Dem
stelle ich nun die Nervosität als durch folgenden Satz
bestimmt gegenüber: „Die Nervosität ist ein psychischer
„Zustand, in dem die psychische Reaktion auf Bindrücke
„und Erinnerungen im Sinne eines Vorherrschens der Unlust-,
„Spannungs- und Erregungsgefühle, die körperliche Reaktion
„im Sinne einer abnormen bteigerung der Ermüdbarkeit
„verschoben ist." Dieser Satz vermeidet vor allem den vieldeutigen
Begriff der „reizbaren Schwäche" oder Neurasthenie,
den man so oft zur Erklärung und Benennung der Nervosität
benutzt hat, und der doch so wenig charakteristisch dafür,
so vieldeutig und dehnbar ist, dass Oppenheim ihn mit gleichem
Rechte für die Kennzeichnung der Hysterie verwenden konnte.
Die Hysterie ist ein angeborenes Leiden, eine
Form der Entartung. Sie tritt vielfach schon im kindlichen
Alter hervor, und kann durch die weitere EntWickelung
unterm Beistande verständnissvoller Behandlung nicht selten
geheilt oder wenigstens zurückgeschoben werden. Wo sie
aber der ausgewachsenen geistigen Persönlichkeit anhaftet,
pflegt sie jedem Beseitigungsversuche zu trotzen. Die
Nervosität ist ein erworbenes Leiden. Ist sie nicht zu
weit fortgeschritten, so verschwindet sie zugleich mit den
Schädlichkeiten, durch die sie hervorgerufen wurde. Unter
denen findet sich an erster Stelle die Ueberspannung solcher
geistiger Leistungen, die unterm Drucke einer starken
Gremüthserregung, namentlich des Ehrgeizes und der Verantwortlichkeit
, stehen. Wo schon die normale Lebensführung,
womöglich gar die des Kindes, ein der Nervosität ähnliches
Bild erzeugt, haben wir in Wahrheit eine Neurasthenie vor
uns, die früher bereits ihre Erörterung gefunden hat.
Die gesteigerte Reaktionskraft der Hysterischen prägt
sich auf intellektuellem Gebiete häufig in einer starken
Eindrucksfähigkeit und gleichzeitigen Ablenkbarkeit aus;
bezieht sie sich auf das Reich der Erinnerungen, so äussert
sie sich wohl in einer üppig blühenden Phantasie, auf deren
Boden vielfach die Produkte der hysterischen „Aufschneidesucht
" erwachsen. Viel ausgesprochener pflegen aber die
Eigenthümlichkeiten des Gemüthslebens und des Wollens zu
sein. Jenes bewegt sich zwischen Extremen; der Hysterische
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