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24 Psychische Studien, XXX. Jahrg. 1. Heft (Januar 1903.)
Werthung der Lebenserscheinungen, die Fähigkeit
, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden,
versteht. Ich habe mich wegen eines Aufsatzes über mein
Goethe - Thema an zehn grosse Revuen gewandt und ebeu-
soviele Absagen erhalten, die sämmtlich mit permanentem
Raummangel motivirt waren. Tn einem Falle trat es jedoch
auf plumpe Weise zu Tage, dass dieser ständige Raummaugel
nur eine faule Ausrede ist. Der betreffende Redakteur
— es handelt sich um die „Deutsche Revue" —
hatte nämlich die Unver— frorenheit, im selben Federzug
zu erklären, dass er für mein Thema keinen Raum habe,
dass es ihm aber lieb wäre, wenn ich ungedruckte Briefe
E. Geilet* an einen seiner alten Münchner Freunde erreichen
und für ihn bearbeiten könnte . . . Nebenbei muss ich
übrigens bemerken, dass ich wenigstens eine unabhängige,
vielseitig und vortrefflich geleitete Zeitschrift kenne: „Die
Gesellschaft", deren Herausgeber, Dr. Arthur Seidl, sich
„weder vor Tod noch Teufel", ja nicht einmal vor dem
Professorenthum fürchtet, vor welchem namentlich liberale
Blätter in stumpfsinniger Bew underung ersterben. Ich habe
mich indessen an die tapfere „Gesellschaft" nicht gewandt,
weil ich gegenwärtig ihrem Herausgeber anderweitig genug
zur Last falle und weil sie Goethe'$ Beziehungen zum Okkultismus
schon wiederholt zur Sprache gebracht hat.*) I 5 i
Bs muss ja allerdings zugegeben werden, dass die
Fabrikanten der öffentlichen Meinung sich im Falle Goethe
in einer recht schwierigen Lage befinden. Denn den Denker
Goethe wegen seines Mystizismus niedriger zu hängen, wie
es Eugen Dühring gethan, dazu reicht eben der Muth des
gewöhnlichen FeuiUetonisten doch nicht hin. Und andererseits
ist das Zugeständniss, dass die okkulten Phänomene
der Aufmerksamkeit und der Prüfung werth seien, nachdem
sie auch in der „Bibel des modernen Menschen" (wie
man Goethe hin und wieder zu nennen beliebt) vorkommen,
wiederum ausgeschlossen, da der „Verstand so hochmüthig
ist, dass ein abgenöthigter Widerruf ihn zur Verzweiflung
bringt" (Goethe), Es bleibt also nichts Anderes übrig als
das zwar perfide, aber altbewährte Mittel des Todtschweigens
oder die freche Fälschung der Thatsachen. Hinsichtlich
meiner Goethe-Schviit ist, soviel ich erfahren, hauptsächlich
das erste Mittel zur Anwendung gebracht worden; dass es
*) Das zweite MaJ geschah dies durch Herrn L. Deut Ina /, dem
ich neben seiner freundlichen Empfehlung meiner Schrift auch den
Hinweis auf Dr. R. v. Hoher9* gediegenen und mir einiges Neue
bietenden Aufsatz „Goethes Ansichten von der Unsterblichkeit*
(„Sphinx*, VII. Jahrgg., Augustheft) verdanke.
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