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48 Psychische Studien. XXX» Jahr^. t. Heft. (Januar 1903,)
hätte sie den Kondukteur an den rothen Händen und an
dem Geruch nach Alkohol. Nun stand fest: Graf A. konnte
der Attentäter nicht gewesen sein, denn er lag zur selben
Zeit krank in Posen, und der Kondukteur, der seine Unschuld
betheuerte, machte damals zum ersten und einzigen
Male die Tour in Süddeutschland, er kannte weder den
Grafen A., noch war er je einmal in seinem Leben in
Freiburg; er wurde auch freigesprochen, da seine Unschuld
mit mathematischer Sicherheit zu Tage lag. Und die Wirklichkeit
: Durch einfache Uebermüdung hatten sich bei der
Dame zwei verschiedene Vorstellungrn vermischt. Was
aber wäre vielleicht das Schicksal des Kondukteurs gewesen,
wenn die Umstände für ihn nicht so günstig gestanden
hätten? —
Der Vortragende führt einen anderen Fall an, in dem
eine Gehirnerschütterung durcü Autosuggestion erzeugt
wurde. Solche Fälle, wie der geschilderte, sind durchaus
nicht so selten, selten sind nur die Fälle, in denen der
Beweis gefühlt wird, dass es sich um Phantasievorstellungen
handelt. Einer der häufigsten Fälle ist der, dass Leute,
die sensibel sind, Blut fliessen sehen, ehe es wirklich iiiesst,
wenn sie Blut erwarten; so bei übermüdeten Aerzten beim
Wegnehmen von Schröpfköpfen.
Wichtiger für die Kriminalisten als die Fehler der
Wahrnehmung sind die Fehler des Gedächtnisses.
Nach Forel ist das Gedächtnis 1) die Fähigkeit etwas zu
behalten, 2) die Fähigkeit, etwas zu reproduziren, und 3)
die Fähigkeit, die Identität des Reproduzirten mit dem
Vorgang in Zusammenhang zu bringen. Zu unterscheiden
sind das bewusste und das unbewusste Gedächtniss; dann
ist zu merken die Lehre von dem Assoziationsvermögen
des Gedächtnisses. Letzteres besteht darin, dass, wenn
Jemand etwas vergessen hat, er sich häutig wieder an die
Sache erinnert, sobald er an den Ort und zu den Gegenständen
zurückkehrt, in Verbindung mit welchen er den
Gedanken gefasst hat. Den Werth dieses Assoziationsvermögens
haben die Juristen schon längst erkannt, deshalb
werden auch Zeugen oft an den Thatorten vernommen.
Fehlerquellen der primären Wahrheit sind Furcht,
Schrecken etc. So fand man, als der Sarg Maria Stuarts
nach 201) Jahren ausgehoben wurde, dass die Königin bei
der Hinrichtung zwei Streiche vom Henker in den backen
erhalten hatte. Von den bei der Hinrichtung anwesenden
Personen hatte im Momente der Auflegung Niemand das
bemerkt; denn während die Hinrichtung sonst bis ins
Kleinste beschrieben wurde, fehlte von dieser Thatsache
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