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v. Pannwitz: Die Psychologie im Gerichtgsaal.
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waren die Verhältnisse viel günstiger, als sie in der
Wirklichkeit je sein werden.
Im Anschluss hieran erwähnt Redner als traurige That-
sache die Ueberlastung der Gerichte und die lange Zeit,
die es oft dauert, bis die Fälle zur Verhandlung kommen.
Die Verhandlung sollte der That auf dem Fusse
folgen, während sich so die Sache oft bis ein Jahr und
länger hinzieht, wodurch es immer schwerer wird, sich ein
richtiges, objektives Bild von den Vorgängen zu verschaffen.
Er weist auch auf die Ermüdung im Gerichtssaal hin, auf
die Zeugen, die auf Früh geladen sind und in der Nacht
daran kommen. Das sei ein Feld, auf dem sich die Justizverwaltung
Dank und Verdienst ei werben könnte. Die
Justizverwaltung hat angeordnet, dass in Zivilsachen die
Zeugen sofort zu vernehmen sind; sind die Strafprozesse,
in denen es sich um die höchsten Güter des Menschen
handelt, während hier nur der Mammon umstritten wird,
weniger werth, als die Zivilprozesse? Auch der Angeklagte
kann übermüdet sein, ja die Uebermüdung spielt bei ihm
sogar eine grosse Rollfc.
Der Redner zieht hierauf die Nutzanwendung für die
Praxis aus dem Experimente: Es giebt keine absolut verlässigen
Aussagen bezw. verschwindend wenig; es besteht
ein umgekehrtes Verhältniss zwischen den zuverlässigen und
den weitschweifigen Aussagen, desshalb ist das sog. Pressen
der Zeugen ungeschickt, unpsychologisch, es ist eine un-
bewusste Unzuverlässigmachung der Zeugen. Wir müssen
aus dem Meineid etwas Anderes konstruiren, als was man
heute dafür annimmt, denn kein Mensch beschwört That-
sachen, er beschwört Schlüsse und Eindrücke. Der Falscheid
gehört hinaus aus dem Strafgesetze; es giebt keinen
Faischeid.
Das Experiment sagt, dass die Frauen unzuverlässiger
sind als die Männer. Im Mittelalter war die
Frau aus dem Gerichtssaal ausgeschlossen, sie hatte bloss
das Privilegium, als Hexe verbrannt zu werden. Ein Umschwung
trat erst im 16. Jahrhundert ein, doch steht heute
noch in dem orientalischen Kodex, dass zwei Aussagen von
Frauen so viel gelten als eine Aussage eines Mannes. In
Amerika hat man bekanntlich den Versuch gemacht, die
Frau zum Geschworenenamte beizuziehen; man ist aber
davon wieder abgekommen. Bei den Philosophen finden
wir keine Anleitung zur Behandlung der Frau; sie alle,
von Sokrates bis Nietzsche, sind Frauenfeinde. Und so müssen
wir uns wenden an das Sezirmesser der Anatomen, an das
Metermass der Anthropologen und an die trockene Lehre
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