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72 Psychische Studien XXX. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1908.)
etwas einbildet, diese Laster gross gezogen werden. Dabei
beseelt ihn auch, beeinflusst durch seinen Freund Carlyle, ein
tiefer Hass gegen den Pseudoliberalismus der Manchester-
Partei und er weist unerbittlich auf viele volkswirthschaft-
liche Schäden hin, geisselt den Hochmuth und nackten
Egoismus der herrschenden Klassen und die Nachtheile der
demoralisirenden Geldherrschaft. Dabei trägt er dick auf,
ja übertreibt. Er rechtfertigt dies in der Vorrede zu
„Dombey and Son" in ebenso glänzender, als ergreifender
Weise. Das Elend der Armen malt er mit furchtbaren
Farben, die der Pinsel eines zweiten Hogarth hinwirft, mit
dem er auch in der Virtuosität „der Groteskzeichnung des
Hässlichen, Närrischen und Wunderlichen", wie Julian Schmidt
sagt*), viele Aehnlichkeit hat. Seine edlen Menschen sind
von einer oft kritiklosen Gutmüthigkeit, seine humorvollen
Burschen unerreichbar geschildert, mit dem Pinsel eines Swift,
aber ohne dessen Gynismus, und selbst seine Bösen gehen
ins Phantastisch - Groteske, bergen also ein Element der
Versöhnung in sich. Auch in der eingehenden Schilderung
des Thierlebens, besonders von Hunden und Vögeln, ist er
einzig.
Was aber die Lektüre Dickens für den Okkultisten zu
einer hochinteressanten macht, ist seine entschiedene Hinneigung
zur Nachtseite der menschlichen Natur, zum nachtwandlerischen
Traumleben der Seele. In der Schilderung
dieser Zustände entfaltet Dickens eine überwältigende, hinreissende
Kraft. Man nehme seinen Roman „Oliver Twist"
(1839) zur Hand und lese das 45. Kapitel, das uns, nach
der Ermordung der armen Nancy, die Flucht des Mörders
Sike schildert. Ein furchtbares Nachtbild! Begleitet von
seinem Hund, den er vergeblich abzuschütteln sich bemüht,
eilt er auf der dunklen Landstrasse dahin, Alles um ihn
her nimmt eine schreckliche Gestalt an, „allein noch unendlich
fürchterlicher war die greuliche Erscheinung der Erschlagenen
, welche ihm dicht auf den Fersen mit feierlichen,
geisterhaften Schritten nachfolgte". . . „Stand er still, so
that die Gestalt es auch; lief er, so folgte sie ihm nach;
nicht im Laufe, was ihm eine Herzenserleichterung gewesen
wäre, — sondern wie eine Leiche, begabt mit mechanischer
Bewegungskraft und getragen von einem traurigen, langsam
daher rauschenden Winde. . . Und plötzlich trat in der
Finsterniss ein weisses Gesicht hervor. . . Zwei starre,
halbgeöffnete Augen, glanzlos und gläsern, erschienen ihm;
*) Julian Schmidt: „Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit"
(Neue Folge) p. 42,
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