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Seiling: Weiteres über „Goethe und der Okkultismus14. 99
zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte.
Für solche Poesien hatte ich eine besondere Ehrfurcht, weil
ich mich doch ungefähr gegen dieselben verhielt, wie die
Henne gegen die Küchlein, die sie ausgebrütet um sich her
piepsen sieht. Meine frühere Lust, diese Dinge nur durch
Vorlesungen mitzutheilen, erneuerte sich wieder, sie aber
gegen Geld umzutauschen, schien mir abscheulich." Nebenbei
sei erwähnt, dass Goethe im selben Buche kurz vorher
von seinen „werthen Mystikern" spricht.
Von einem mystischen Zustand anderer Art ist im
14. Buch der Selbstbiographie die Rede: „Ein Gefühl aber,
das bei mix gewaltig überhand nahm und sich nicht wundersam
genug äussern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit
und Gegenwart in Eins, eine Anschauung, die
etwas Gespenstermässiges in die Gegenwart brachte."
Im 13. Buche des gleichen Werkes erzählt Goethe, wie
er einmal in einer eigenthümlichen Gemüthsverfassung das
Schicksal befragte und sich vom erhaltenen Orakel in seiner
Handlungsweise beeinflussen liess: „Ich wanderte auf dem
rechten Ufer des Flusses, der in einiger Tiefe und Entfernung
unter mir, von reichem Weidengebüsch zum Theil
verdeckt, im Sonnenlicht hingleitete. Da stieg in mir der
alte Wunsch wieder auf, solche Gegenstände würdig nachahmen
zu können. Zufällig hatte ich ein schönes Taschenmesser
in der linken Hand, und in dem Augenblick trat
~ns dem tiefen Grunde der Seele gleichsam befehlshaberisch
hervor, ich sollte dieses Messer ungesäumt in den Pluss
schleudern: sähe ich es hineinfallen, so würde mein künstlerischer
Wunsch erfüllt werden; würde aber das Eintauchen
des Messers durch die überhängenden Weidenbüsche verdeckt
, so sollte ich Wunsch und Bemühung fahren lassen.
3o schnell, als diese Grille in mir aufstieg, war sie auch
ausgeführt: denn ohne auf die Brauchbarkeit des Messers
*u sehen, das gar manche Gerätschaften in sich vereinigte,
ichleuderte ich es mit der Linken, wie ich es hielt, gewaltsam
nach dem Flusse hin. Aber auch hier musste ich die
xügliche Zweideutigkeit der Orakel, über die man sich im
\lterthum so bitter beklagt, erfahren. Des Messers Ein-
auchen in den Fluss ward mir durch die letzten Weiden-
Zweige verborgen, aber das dem Sturz entgegenwirkende
Wasser sprang wie eine starke Fontäne in die Höhe und
rar mir vollkommen sichtbar. Ich legte diese Erscheinung
licht /.u meinen Gunsten aus, und der durch sie in mir
erregte Zweifel war in der Folge schuld, dass ich diese
Jebungen unterbrochener und fahrlässiger anstellte, und
ladurch selbst Anlass gab, dass die Deutung des Orakels
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