http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0110
100 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 2. Heft. (Februar J903.)
sich erfüllte. Wenigstens war mir für den Augenblick die
Aussenwelt verleidet.*1 Ein nicht mystisch Veranlagter hätte
sicher statt des werthvollen Messers einen Stein genommen
und das Orakel gegebenen Falles wiederholt befragt, um
sich schliesslich doch nicht daran zu kehren. Dass Orakelsprüche
zu respektiren sind, scheint Goethe zuerst bei seiner
Mutter beobachtet zu haben; wenigstens erzählt er im 3. Buche
von „Aus meinem Leben", dass seine Mutter gelegentlich
„doppelt getröstet war, da sie des Morgens, als sie das
Orakel ihres Schatzkästleins durch einen Nadelstich befragte,
eine für die Gegenwart sowohl als für die Zukunft sehr
tröstliche Antwort erhalten hatte." —
Für Goethe's üeberzeugung von der Existenz eines
selbständigen seelischen Prinzips, das mit der stofflichen
Welt keine Weseusgemeinschaft hat, habe ich noch
mehrere Belege gefunden. In den „Sprüchen in Reimen"
findet sich:
Und wer durch alle die Elemente,
Feuer, Luft, Wasser und Erde rennte,
Der wird zuletzt sich überzeugen,
Er sei kein Wesen ihres Gleichen.
Ais Goethe mit Eckermann wieder einmal (März 1830)
über die Entelechie sprach, äusserte er: „Die Hartnäckigkeit
des Individuums und dass der Mensch abschüttelt, was
ihm rieht gemäss ist, ist mir ein Beweis, dass so etwas
existire. Leibniz hat ähnliche Gedanken über solche selbständige
Wesen gehabt, und zwar, was wir mit dem Ausdruck
Entelechie bezeichnen, nannte er Monaden.4* Die
Entelechie hat Goethe offenbar auch im Auge, wenn er in
einem anderen der „Sprüche in Reimen" sagt:
Ihr sucht die Menschen zu benennen,
Und glaubt am Namen sie zu kennen.
Wer tiefer sieht, gesteht sich frei,
Es ist was Anonymes dabei.
Zu der von Goethe für die Einschränkung des Bewusst-
seins in Folge der irdischen Verkörperung so glücklich gewählten
Bezeichnung „körperliche Verdüsterung der Entelechie
" habe ich bei Eckermann (Dez. 1829) noch folgende
Parallelstelle entdeckt: „Solche geistige Wesen wie der
Homunculus, die durch eine vollkommene Menschwerdung
noch nicht verdüstert und beschränkt worden, zählte man
zu den Dämonen, wodurch denn unter beiden eine Art von
Verwandtschaft existirt." — A propos Dämonen, es giebt
einen Ausspruch, dessen Fundort ich mir seinerzeit leider
nicht notirt habe: „Wir Menschen führen uns nicht selbst;
bösen Geistern ist Macht über uns gelassen, dass sie ihren
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0110