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Hellpach: Hysterie und Nervosität.
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Bewegungsfreiheit, mit dem Schwinden abergläubischer
Vorurtheile, mit der Einsicht ins Wesen der Suggestion
werden der hysterischen Veranlagung viele Handhaben entzogen
, an denen sie angreifen konnte. Die Hysterie ist
die Krankheit der Unfreiheit. In diesem Satze liegen
auch ihre sozialen Beziehungen eingeschlossen. Allein in
dem Masse, wie sie verschwindet, sehen wir ein anderes
Leiden an ihre Stelle treten: die Nervosität wird
die Krankheit der Freiheit, der an alle
Freiheit geknüpften Unsicherheitund Verantwortung
.
Darum ist auch sie kein ausschliesslich modernes
Leiden. Vielmehr gewahren wir ihre Spuren überall da,
wo Produktion und Handel in die Formen eines individualistischen
Betriebs, des Unternehmerthums., einlenken und
damit zugleich Reichthum und komfortable Lebensführung
sich ausbreiten. Niemals aber ist diese Entwicklung breiter,
entschiedener und dauernder gewesen, niemals hat sie so
sehr die ganze westeuropäisch - amerikanisch - japanische
Kulturwelt erfasst, als mit dem Beginn der kapitalistischindustriellen
Aera. Mit der Erweiterung der Stadtwirth-
schaft zur Volkswirtschaft, ja zur Weltwirtschaft, mit
der Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel konnte
es sich diesmal nicht bloss ujn eine kurze Episode, musste
es sich um den Anbruch einer ganz neuen Zielen zustrebenden
geschichtlichen Epoche handeln. Mit ihr gelangt auch der
geistige Individualismus zum Siege auf der ganzen Linie:
die alten Normen und Schranken, die alten Heiligthümer
und Illusionen stürzen im Reiche der Kunst und der Religion,
der Wissenschaft, der gesellschaftlichen Sitte und der
Staatsraison.
Es sind zweierlei Einflüsse, die sich zunächst untergrabend
auf die geistige Gesundheit stürzen, und sie vertheilen
sich auf die Leiter und Arbeiter im Produktionsprozesse
Diese umtobt der monotone Lärm der Maschinenarbeit; und
zugleich mit der alten Ruhe schwindet bei einer bis aufs
äusserste getriebenen Arbeitstheilung die Freude an der
Vollendung eines Ganzen, wie sie den Handwerker der
kleinbürgerlichen Zeit belohnte. Auf der anderen Seite
treibt die freie Konkurrenz den Unternehmer zu immer
grösserer Anspannung seiner Kräfte, zwingt ihn zu unablässiger
Beobachtung aller kleinsten Verschiebungen auf
dem Weltmarkte. Ein Drittes aber, und dieses Dritte erscheint
mir als das Allerwichtigste, gesellt sich hinzu und
beunruhigt den Arbeiter wie den Kapitalisten in gleicher
Weise. Es ist das Gefühl von der Unsicherheit
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