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154 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 3. Heft (März 1903.)
der wirtli8chaftlichen Existenz. Die ganze Erde
umspannt das moderne Wirthschaftsnetz; und ein kleiner
Stoss, der dieses höchstempfindliclie Nervensystem im fernen
Westen Amerikas trifft, kann möglicherweise in unserem
Lande die heftigsten Zuckungen und Erschütterungen auslösen
, denen eine ganze Reihe von Unternehmen zum Opfer
fallen. Die Krisis ist das furchtbare Gespenst dieser
modernen Produktionsweise, die in wenigen Stunden hereinbrechende
Krisis, die den Millionär zum Bettler macht und
ihm die Pistole in die Hand drückt, die gleichzeitig Tausende
von Arbeiterfamilien brotlos aufs Pflaster wirft. Und alles
dies wird umflossen von dem eisig kalten Glänze der modernen
Aufklärung mit dem Fehlen all der schönen alten Tröstungen
und Hoffnungen und Ideale. Wie ein Alp liegt die Einsicht
in die ungeheuere Gewalt der naturgesetzlichen und der
wirtschaftlichen Notwendigkeit über den Menschen, und
noch stehen Kunst und Religion erst bei den Anfängen des
Versuchs, auch dieser harten Erkenntniss einen verklärenden
Schleier zu weben. Dafür aber bietet das Grossstadtleben,
und jetzt auch das der mittleren und kleinen Städte schon,
eine wahre Flut von auf- und überreizenden Genüssen, von
erschlaffenden Raffinements, die den geplagten Menschen
für eine Stunde all seine Sorge vergessen lassen, damit sie,
wenn der kurze Rausch der Ernüchterung weicht, desto
grauer und quälender auf ihn einstürme. Auf diesem Boden
wuchert in üppigster Fruchtbarkeit die Geisteskrankheit:
Nervosität, Und es ist kein Zufall, es ist nur natürlich,
dass sie dort, wo alle die geschilderten Momente am frühesten
und am stärksten sich geltend machten, zuerst in ihrer
Eigenart erkannt und beschrieben worden ist: der amerikanische
Arzt Beard stellte unter dem Namen der
„Neurasthenie" das Leiden im Jahre 1880, also vor zwei
Jahrzehnten, der Menschheit vor.
Ganz ausgestorben war die Krankheit natürlich nie.
Alle jene Lebensberufe, in denen Unruhe, starke Erregung
und Unsicherheit sich auf wenige Stunden, ja oft auf
Minuten zusammendrängen, pflegen ihre Träger nervös zu
machen. Man denke an den Stabsoffizier, dessen Laufbahn
an einem Manövervormittag sich entscheidet, an den Bühnenkünstler
, der sein ganzes Hoffen auf eine Szene setzt, an
den Arzt, der das Leben eines Menschen von seinem Eingreifen
abhängig sieht, an den Richter, der angesichts eines
höchst komplizirten Beweismaterials ein Lebensglück in
seine Hände gegeben weiss, an den Politiker, dem zehn
Stimmzettel jahrelang gehegte Pläne zunichte machen. Da,
wo die Persönlichkeit ihre ganze Kraft einsetzen muss, wo
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