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HeUbach: Hysterie und Nervosität.
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tuellen Moment der verminderten geistigen Leistungsfähigkeit
Abhängiges darstellt. Ich halte demgegenüber an der hier
ausgeführten Meinung fest, dass die Verschiebung im
Gefühlsleben das Erste, Bedingende ist, dass unter ihrem
Drucke erst die Mängel der intellektuellen Kraft sich
bemerklich machen. Die Kranken werden nicht gereizt und
unwirsch, weil sie ihre Arbeitsfähigkeit erlahmen fühlen,
sondern sie können nichts mehr leibten, weil j<de Vorstellung,
jeder Impuls mit Unlustgefühlen sich verkettet. Sie selber
werden natürlich die umgekehrte Verkettung angeben. Denn
ihre Krankheitseinsicht erstreckt sich nur auf das Reich
der Empfindungen und Vorstellungen, die ihnen unangenehm
zu schaffen machen; dagegen wissen sie von ihrer überreizten
Stimmung als etwas Krankhaftem nichts, und wenn man sie
ihnen vorhält, so sind sie sofort bereit, dieselbe als eine
ganz unvermeidliche Folge ihrer Müdigkeit und Schlaffheit
zu interpretiren — genau wie es früher für die Störungen
des intellektuellen und des Gemütslebens erörtert wurde.
Zwar räumt auch Kraepelm den Gemütsbewegungen insofern
einen Platz in der Entstehung der Nervosität ein, als er
meint, sie hinderten uns vielfach daran, die Ermüdung
zu empfinden und rechtzeitig in unserer Thätigkeit inne zu
halten. Aber auch diese indirekte Einwirkung scheint mir
die Sachlage ganz und gar nicht zu erschöpfen. Ich denke
mir vielmehr die Nervosität als eine unmittelbare Ermüdung
der Gefüblsvorgänge, die doch so gut psychische Leistungen
bedeuten, wie Nachdenken und Auffassung. Wir wissen
schon aus dem täglichen Leben, dass unser Gemüth auf
aussergewöhnliche Hochspannungen der Stimmung regelmässig
mit einer unlustbetonten Erschlaffung reagirt. Dabei
können die intellektuellen Leistungen so geringe gewesen
sein, dass sie allein noch keine merkliche Ermüdung rechtfertigen
. In der Last der Verantwortung aber erreicht
diese Hochspannung ihre stärksten Grade und ihre längste
Dauer; die Erschlaffung, die sich daran knüpft, ist eben
die Nervosität. Ich bestreite nicht, dass dies wesentlich
Vermutungen sind; aber ich bin überzeugt, dass die Deutung
der nervösen Erscheinungen sich in dieser Richtung bewegen
wird, während umgekehrt alle intellektualistischen Interpretationen
sich vergeblich mit ihr abquälen dürften.
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