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162 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 3. Heft. (März 1903.)
Da aber, wie wir sehen werden, ihre Argumentation dem
Thatsächlichen nur bis zu einem gewissen Grade treu bleibt,
so muss man wohl Anstand nehmen, ihrer Weltanschauung
vor anderen den Namen der „wissenschaftlichen" zu vin-
diziren; da es ferner noch anders zu verstehende „natürliche
" und „monistische" philosophische Anschauungen, bezw.
Autoren (z. B. Dühring) giebt, so wird es wohl am besten
sein, die Benennung der materialistischen beizubehalten.
Die Grundbehauptungen dieser Lehre sind bekanntlich
die drei Verneinungen: es giebt keinen Gott, es
giebt keine Seele im Sinne eines selbständig
Existirenden, und folglich ist dieselbe auch
nicht unsterblich.
Zunächst glaube man übrigens nicht, dass die materialistische
Weltauffassung als eine durchweg grundlose zu
beurtheilen ist; in manchen Stücken haben die materialistischen
Schriftsteller offenbar Recht \ und ihrer Thätigkeit
gebührt die Anerkennung, als Aufräumer und Säuberer in
einem Gebiet gearbeitet zu haben, wo man sonst bis an die
Kniee in dialektischem und phantastischem Schutt watete.
Nur haben sich deren Jünger dabei verleiten lassen, ihrem
Sehen, Wissen und Können zu viel zuzumuthen. Denn sie
leben nicht nur der Ueberzeugung, dass ihre Behauptungen
die lautere, zweifellose Wahrheit sind, sondern dass das
einstige Glück der Menschheit und der wahre Werth
des Lebens gerade durch sie zu erreichen sei. In der
nachfolgenden Abhandlung haben wir es hauptsächlich mit
den allgemeinen Gründen für und wider und mit dem sich
daraus ergebenden Werth des Lebens zu thun. —
Für's Erste ist die Art und Weise, wie sich der Materialismus
über zwei längst anerkannte und höchst bedeutsame
Thatsachen hinwegzusetzen sucht, keineswegs befriedigend
. Ich meine die, dass einerseits die ungeheure
Mehrzahl der Menschen, andererseits fast alle grossen,
wenigstens gerade die grössten Sprösslinge derselben, stets
dafür hielten, dass das Leben nur unter der Bedingung
eines ergänzenden oder Glaubensgebietes einen wirklichen
Werth habe; und das ßedürfniss nach einer solchen Ergänzung
ist eine der zwei Wurzeln der Religionen,
indes die andere auf der Beobachtung des einem unbegreiflichen
Etwas entsteigenden Weltlaufs beruht.
Sobald man von der Religion alles Dasjenige abstreift,
was in dieselbe durch Aberglauben, Leichtgläubigkeit, Einbildung
, Berechnung, sichtlichen Betrug etc. eingeschmuggelt
worden ist, so bleiben zwei Grundideen übrig, die einer
vernünftigen Weltordnung und einer persönlichen Fortdauer,
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