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164 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 3. Heft. (März 1903.)
schlos8 man dann, dass besagte Ideen dem Menschen nicht
angeboren sein können, wie dies von Theologen und Philosophen
behauptet zu werden pflegte. Was folgt jedoch
weiter aus diesem Ergebniss?
Zuerst sei bemerkt, dass man nicht genug Vorsicht
anwenden kann, wenn es sich darum .handelt, Naturmenschen
über abstrakte Dinge zu examiniren, besonders
wenn man deren Sprache unvollständig kennt und keinen
zuverlässigen Dolmetscher bei der Hand hat. Aus eigener
Erfahrung ist mir bekannt,*) dass man sich dabei gar leicht
irren kann, und nur wiederholte Sondirungen nebst möglichster
Anpassung an die Denk- und Ausdrucksweise solcher
Völker können zu sicheren Schlüssen führen. Daher lasse
ich die Frage offen, ob wirklich alles von Missionären und
Reisenden vorgebrachte Material über glaubenslose Völker
unanfechtbar ist. Doch selbst angenommen, es sei alles
richtig, was wäre damit gewonnen? Bekanntlich stehen besagte
Völkerschaften durchweg auf der niedrigsten Stufe
der Menschheit, was ja diejenigen Schriftsteller, welche in
der Glaubenslosigkeit solcher Menschen eine Waffe gegen
religiöse Ideen zu finden vermeinten, selbst hervorheben.
Sind diese Ideen den Menschen auch nicht angeboren, so
folgt daraus keineswegs, dass sie sich bei ihnen nicht notwendiger
weise, bei wachsender Intelligenz, einstellen
müssen. Wenn bei solchen Menschen noch manche Eigenschaften
fehlen, die wir als unzertrennlich mit der auch
nur einigermaassen vorgeschrittenen menschlichen Psyche
verbinden können; wenn z. B. die Mincopies der Andamanen-
inseln**) aller Schambaftigkeit baar sind und sich mit Koth
beschmieren sollen, folgt etwa daraus, dass Schamhaftigkeit
und Reinlichkeitssinn dem Menschen bloss „künstlich" anerzogen
sind? Niemand wird auch erwarten, bei halb-
thierischen Volksstämmen gewisse höhere Fähigkeiten, z. B.
musikalische Anlagen, einen Sinn für Naturschönheit, für
wissenschaftliche Philosophie u. dergl. zu finden; und doch
entwickeln sich solche Fähigkeiten überall und unfehlbar,
wo der Mensch bereits eine gewisse Kulturstufe erstieg.
In eben derselben Weise erscheinen nun auch religiöse
Bedürfnisse und Ideen bei jedem auch nur halbwegs kulti-
virten Volke, sind aber ein ebenso nothwendiges Produkt
der Entwickelung wie jene, oder, mit anderen Worten, die
Anlage dazu liegt von vorneherein in der menschlichen
Natur, nur warten sie auf ein gewisses Entwickelungsstadium,
um sich zu offenbaren.
*) s. meine Monographie „Die Ghiliaken", Russ. Revue 1882.
**) L. Büchner „Die Stellung des Menschen in der Natur", 1869, S. CVI.
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