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180 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 8. Heft. (März 1903.)
des neuen Testaments vielfach abhängt von der babylonisch-
assyrischen Welt. Er führte u. a., nach einem Bericht der
„Voss. Ztg.", aus:
Es giebt keine grössere Verirrung des menschlichen
Geistes als der Glaube, die Bibel sei eine persönliche
Offenbarung Gottes. Der Inhalt der Bibel selbst
widerspricht vielfach dieser Anschauung. Das Buch Hiob
enthält Stellen, die an Blasphemie grenzen. Das „hohe Lied"
enthält weltliche Lieder voller Lust; umsonst bemühen sich
in Einseitigkeiten befangene Ausleger, durch künstliche
Konstruktionen solchen Stellen einen Sinn unterzulegen,
der dem Inhalt fremd ist, nur um sie in ihre Anschauungen
von dem göttlichen Ursprung einzuzwängen. Die wissenschaftliche
Theologie hat auch längst erkannt und entdeckt,
dass die Bibel durch fortdauerndes Umarbeiten und In-
einanderarbeiten von ganz verschiedenen litterarischen Bestandteilen
zu dem geworden ist, was uns vorliegt. Das
Bemühen, die Bestandteile aus dem Ganzen auszulegen,
ist nicht ohne Erfolg gewesen. Aber Hand aufs Herz:
Ausser der Gottesoffenharung, die jeder Mensch in sich
trägt, brauchen wir keine. Wie ist es im Lichte der
wissenschaftlichen Forschung um die 10 Gebote bestellt?
Es ist leicht zu zeigen, wie engere Interessen der einzelnen
Glaubensgemeinschaften Aenderungen nicht nur in der Anordnung
, sondern auch im Texte vorgenommen haben, und
zwar Aenderungen ganz wesentlicher Art; und doch sollen
die zehn Gebote die eigenste Offenbarung Gottes an Moses
sein! Aber selbst Moses ging nach der biblischen Ueber-
lieferung mit den Tafeln nicht so um, wie er es hätte thun
müssen, wären sie ihm die höchste Offenbarung Gottes gewesen
. Wie könnte er an einer göttlichen Darbietung willkürlich
ändern ? Was wir als die erste Pflicht eines Jeden
erachten, der es mit einem Testament zu thun hat, nämlich,
dass er es rein und unverfälscht überliefert, das soll Moses
an einer von Gott herrührenden, den Inhalt aller Gesetze
und Moral enthaltenden göttlichen Darbietung ausser Acht
gelassen haben! Aber wir wissen von Dillmann, dass es mehr
als einen Text der 10 Gebote giebt und zwar Texte, die
zeitlich weit auseinander liegen. In Wirklichkeit steht es
um die 10 Gebote so: Von Alters her waren Bräuche und
Gesetze ausgebildet, es gab Normen für das Handeln in
Haus und Gemeinschaft, den Mitmenschen und der Gottheit
gegenüber. Alle diese Normen wurden zusammengelegt und
Moses zugeschrieben, sodass er in der Ueberlieferung als der
geistige Urheber von alle dem erscheint, was in den mosaischen
Gesetzen enthalten ist. Nun wissen wir aber, dass in Babylon
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