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H. Maier: Ueber die natürliche Grundlage der Ethik. 183
starken Menschenart, zuletzt die des „üebermenschen". Der
einzige Trieb im Individuum ist der Wille zur Macht. Wer
die Kraft hat, seiner egoistischen Raubthiernatur zu folgen,
hat das Recht dazu. (Die berüchtigte „Herrenmoral".) In
einem Funkte treffen die egoistischen Systeme alle zusammen,
in der Ueberzeugung, dass das natürliche Wollen des Menschen
durch das persönliche Interesse bestimmt ist,
dass die eigene Tüchtigkeit der abschliessende Zweck alles
Strebens sei. Dieser Grundgedanke ist unantastbar. Wie
psychologische, biologische und entwickelungsgeschichtliche
Erwägungen ergeben, ist der Grundtrieb des Menschen
allerdings auf Selbstbehauptung gerichtet. Aus dem Willen
zur Selbstbehauptung wird mehr und mehr der Wille der
Selbstbetätigung, der die Sondertriebe regulirt. Aus diesem
Egoismus der Persönlichkeit fliesst das sittliche Leben.
Der Werth der Persönlichkeit, der im persönlichen Willen
wurzelt, findet in all den Erscheinungen seinen Ausdruck,
die wir im Begriff des Gewissens zusammenfassen. Alles
Hohe und Herrliche des Menschenlebens knüpft sich an
diesen Willen. Die soziale Tendenz aber entspricht nur
dem Einfluss, den die Gesellschaft entwicklungsgeschichtlich
und historisch auf die sittliche Anlage des Individuums
gewonnen hat, und das Zusammenleben mit andern ist für
das Individuum zuletzt ein selbständiges Gut. Trotzdem
ist und bleibt der Egoismus die Wurzel des sittlichen
Lebens, nicht der Egoismus, der das eigene Interesse den
Interessen anderer und der Gesaramtheit feindlich gegenüberstellt
, vielmehr der Egoismus, der das fremde
Interesse ins eigene aufnimmt. Die Selbsterhaltung
, die Erhöhung und Vervollkommnung der eigenen
Persönlichkeit ist und bleibt der höchste Zweck des sittlichen
Wollens. Das ist der gesunde Kern der egoistischen
Theorien. Alle Verschiedenheiten der sittlichen Anschauungen
, sogar im selben Volke, sind darum nicht blos erklärlich
, sondern ethisch berechtigt. Darauf beruht zuletzt
jeder Portschritt des sittlichen Bewusstseins in der Geschichte
. Der sozialen Phrase gegenüber, die in tausend
Variationen das heutige Denken beherrscht, kann nicht
nachdrücklich genug betont werden: Der individuelle
Selbsterhaltungstrieb ist nicht blos die Quelle alles
sittlichen Wollens und Handelns, sondern zuletzt die treibende
Kraft in der sittlichen Entwickelung der Menschheit. —
Das ist bekanntlich auch das Resultat der individualistischen
Seelenlehre du Prefs, nur dass Letzterer in seinem
System des transscendentalen Individualismus den
jeden irdischen Wechsel überdauernden wahren Wesens-
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