http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0239
226 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 4. Heft. (April 1903.)
Und doch ist der zweite Grundirrthuin des Materialismus
noch ungeheuerlicher als jener erste, welcher glaubt, vom
erkennenden Subjekt keine Notiz nehmen zu müssen. Da der
Materialist bei seinem an sich lobenswerthen Bestreben nach
einer einheitlichen Welterklärung ausser der realen Materie
nichts anerkennt, muss er die Naturkräfte, mithin auch die
Entstehung, Entwicklung und Funktionen der Organismen
mitsaramt den seelischen Zuständen und Vorgängen auf
eine mechanische Wirksamkeit der Materie zurückführen.
Mit dieser Wirksamkeit (Energie) ist übrigens, beiläufig
bemerkt, bereits ein zweites Prinzip gesetzt, so dass es mit
dem so laut gepriesenen Monismus der Materialisten nichts
ist Die Sache läuft also darauf hinaus, dass der menschliche
Geist ein Produkt der Materie ist, und zwar ein recht
belangloses. Nach Büchner ist nämlich das geistige Leben
eine Art Abnormität, dem kurzen Spiel einer Eintagsfliege
vergleichbar. Und Vogt wiederum hat in seinen „Physikalischen
Briefen" gesagt, die Gedanken stünden zum Gehirn
im selber Verhältniss wie der Drin zu den Nieren;
welcher Vergleich, so weit eben die Gedanken der Materialisten
in Betracht kommen, von H. Lotze begreiflicherweise
gar nicht übel befunden wurde. Wer erkannt hat, dass
das uns am nächsten Liegende eine geistige oder vielmehr
- nach Schopenhauer — eine Willenserfahrung ist, sowie
dass der Materie, da sie von unserem Geiste abhängig ist,
eine objektive Wirklichkeit nicht zukommt, Dem stellt
sich das vom Materialisten geglaubte (nicht etwa erkannte
) Verhältniss zwischen dem Psychischen und Physischen
ebenso dar, wie wenn der Künstler von seinem
Werk, doch nein, von einem Abbild seines Werkes hervorgebracht
würde. Sehr glücklich ist dieser Gedanke schon
von Lotze („Mikrokosmos") in die Worte gefasst worden:
„Unter allen Verirr ungen des menschlichen Geistes ist diese
mir immer als die seltsamste erschienen, dass es dahin
kommen konnte, sein eigenes Wesen, welches er allein unmittelbar
erlebt, zu bezweifeln oder es sich als Erzeugniss
einer äusseren Natur wieder schenken zu lassen, die wir
nur aus zweiter Hand, nur durch das vermittelnde Wissen
eben des Geistes kennen, den wir leugneten." Bewusstsein
und Denken aus der Materie ableiten wollen, das ist, wie
Adickes in seiner vernichtenden Schrift „Kant contra BaeckelA
sich schlagend ausgedrückt hat, ein ähnliches Kunststück,
wie wenn der Freiherr von Münchhausen sich an seinem
eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht.
Und dieser Höhepunkt von Absurdität mit den oben
bereits aufgezählten, materialistischen Allüren sollte die
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0239