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228 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 4. Heft. (April 1903.)
hat, „endgiltig gelöst" seien. Diese sieben Welträthsel sind:
1. Das Wesen von Materie und Kraft. 2. Der Ursprung
der Bewegung. 3. Die erste Entstehung des Lebens. 4. Die
(anscheinend absichtsvoll) zweckmässige Einrichtung der
Natur. 5. Das Entstehen der einfachen Sinnesempfindung
und des ßewusstseins. 6. Das vernünftige Denken und der
Ursprung der damit eng verbundenen Sprache. 1. Die
Frage nach der Willens-Freiheit. (Das „Ignorabimus14 gilt
für das erste, zweite und fünfte Bäthsel.) Wenn man sich
gegenwärtig hält, auf welcher Grundlage der Materialismus
sein gedankliches Gebäude errichtet, dann kann man
angesichts der Haeckel'sehen Welträthsel-Lösung eigentlich
nur fragen, ob die gläubigen Leser nicht zum Narren gehalten
werden sollen.
Wie anders, ja gerade entgegengesetzt, verhält sich
Goethel Er schätzt den Werth des Menschenwesens hoch,
die Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes hinsichtlich
der Welterklärung aber sehr niedrig ein. Sagt Goethe einerseits
z. ß. zu Falk (nach WielancVs Tode): „Vom Untergange
solcher hohen Seelenkräfte kann in der Natur niemals und
unter keinen Umständen die Rede sein; so verschwenderisch
behandelt sie ihre Kapitalien nie," — so erfahren wir andererseits
schon in Faust's Studirzimmer, wie es mit der Möglichkeit
einer Lösung der Weltrathel bestellt ist. Und in
Ueberein8timmung hiermit hat Eckermann aus Goethes Munde
vernommen, dass „wir alle in Geheimnissen und Wundern
tappen". Von sonstigen Aeusserungen des Weimarer Weisen
über diesen Punkt sei noch das bekannte Wort: „Wir
tasten ewig an Problemen*' und einer der „Sprüche in
Prosa" angeführt: „Des Menschenverstandes angewiesenes
Gebiet und Erbtheil ist der Bezirk des Thuns und Handelns.
Thätig wird er sich selten veniren; das höhere Denken,
Scbliessen und Urtheüen jedoch ist nicht seine Sache."
Wenn aber trotzdem geistige Grossthaten vorkommen, dann
führt Goethe sie auf Inspiration zurück. So schrieb schon
der junge Goethe an Plessing (1782): „So viel kann ich Sie
versichern, dass ich .... sehe, dass nicht mein Wille,
sondern der Wille einer höheren Macht geschieht, deren
Gedanken nicht meine Gedanken sind", — während der
alte Goethe (1S28) zu Eckermann u. A. sagte: „Jede Produktivität
höchster Art, jedes bedeutende Apergu, jede Erfindung
, jeder grosse Gedanke, der Früchte bringt und
Folge hat, steht in Niemandes Gewalt und ist über aller
irdischen Macht erhaben. Dergleichen hat der Mensch als
unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes
zu betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen
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