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Seiling: Goethe und der Materialismus
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und zu verehren hat. In solchen Fällen ist der Mensch
oftmals als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu
betrachten, als ein würdig befundenes Gefäss zur Aufnahme
eines göttlichen Einflusses."
Aber als Pantheist berührt Goethe sich doch mit
der sogen, natur-wissenschaftlichen Weltanschauung? . . .
Gemach, man könnte dem höchstens dann zustimmen, wenn
man Ilaeckel ohne weiteres glauben wollte, dass sein atheistisch
-dualistischer Materialismus sich mit der Lehre Spinoza's
decke, und wenn man von Goethe nichts weiter wüsste, als
dass er gelegentlich geäussert hat, als Naturforscher sei
er Pantheist. Nun hat aber der Materialismus, wie man
sich gegebenen Falles von A dickes belehren lassen mag, mit
Spinoza?s Pantheismus so gut wie gar nichts zu thun, und
andererseits ist es nimmer angängig, in Goethe, diesem ausgesprochenen
Individualisten, einen zünftigen Pantheisten
zu erblicken. Der Einfluss, den Spinoza auf Goethe gehabt,
wird vielfach überschätzt oder sogar falsch verstanden.
Spinoza hatte auf Goethe, der nicht sagen konnte, dass ihm
„jemals das ganze Gebäude seiner (Spinoza1*) Gedanken
völlig anschaulich vor der Seele gestanden hätte" (an Jacobi)*
und der in „Wahrheit und Dichtung" (XVI) schrieb: „Denke
man aber nicht, dass ich seine Schriften hätte unterschreiben
und mich dazu buchstäblich bekennen mögen", — vornehmlich
eine ethische Wirkung; er war ein friedliches Asyl, zu
welchem der Dichter sich im Lebenssturme immer wieder
gerne rettete. Von den veischiedenen, hierauf bezüglichen
Selbstzeugnissen sei an dieser Stelle nur ein in „Wahrheit
und Dichtung" abgelegtes angeführt: „Mein Zutrauen auf
Spinoza ruhte auf der friedlichen Wirkung, die er in mir
hervorbrachte." Und was Spinoza's Pantheismus betrifft,
so war Goethe im Gegensatz zu seinen vermeintlichen materialistischen
Gesinnungsgenossen weit entfernt, ihn als höflichen
Atheismus zu deuten; er nennt vielmehr Spinoza in einem
Briefe an Jacobi (1785) „theissimum", ja „christianissimum".
Ein so gründlicher Forscher wie Eugen Dühring, der übrigens
mit dem Materialismus eine gewisse Fühlung hat, spricht
denn auch ganz richtig von Goethe's „angeblichem Pantheismus
". Mag Goethe immerhin Gott auch in der Natur
gesucht und gefunden haben, so hat er vom höchsten Wesen
doch unzählige Male, oft in rührenden Ausdrücken, durchaus
in monotheistischem Sinne gesprochen, sein Gottesbild
sich nach seinen jeweiligen Bedürfnissen gestaltend. Erinnert
man sich nun, dass der Dichterfürst ein unendlich
reiches und tiefes Gemüth besessen, dann kann man sich
leicht vorstellen, welch gewaltiger Unterschied zwischen
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