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230 Psychische Studien, XXX. Jahrg. 4. Heft. (April 1908.)
dem, von den Bedürfnissen eines Goethe erzeugten Gottesideal
und dem kalten Substanzbegriff des gemüthlosen Haeckel
besteben mag. Diese beiden Dinge zu identifiziren, ist also
plumpeste Falschmünzerei. Es ist überhaupt nicht thunlich,
Goethe zum Eideshelfer irgend eines philosophischen Systems
zu machen, da er nach seiner eigenen Aussage (s. den Aufsatz
„Einwirkung der neueren Philosophie") für Philosophie
im eigentlichen Sinne kein Organ hatte, wie er ja auch
gegen Uckermann geäussert, dass er sich von Philosophie
stets frei gehalten habe. Sehr bezeichnend ist ferner, was
er an Jacobi (1813) schrieb: „Ich für mich kann bei den
mannigfachen Richtungen meines Wesens nicht an einer
Denkweise genug haben."
Wie steht es jedoch mit dem Naturforscher Goethe?
Dieser darf doch wohl als Vorläufer der materialistischen
Entwicklungslehre gelten? . . . Oho! — Der klaren Beantwortung
dieser Frage müssen einige Erörterungen voraufgehen
. Man hat sich nachgerade daran gewöhnt, die Abstammungslehre
als gleichbedeutend mit dem Darwinismus
anzusehen, während jene Lehre doch schon 50 Jahre vor
Darwin von dem grossen Zoologen Lamarck begründet wurde.
Darwin hat lediglich neben der von Lamarck aufgestellten
Anpassungstheorie auch der natürlichen Auslese eine hervorragende
Rolle bei der Transmutation zugetheilt. Was der
Selektionstheorie Darwin9s zu voreiliger, weitverbreiteter Anerkennung
verhalf, waren hauptsächlich zwei Momente: die
Analogie mit der künstlichen Züchtung und das plausible
Märchen vom Kampf ums Dasein. Welch zündende Wirkung
diese Momente auf die Materialisten hatten, davon ein Beispiel
: vDarwin zeigte zuerst, wie der gewaltige Kampf ums
Dasein der unbewusst wirkende Regulator ist, der die
Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung bei der
allmählichen Transformation der Species leitet; er ist der
grosse, „züchtende Gott", der ohne Absicht neue Formen
eben so durch natürliche Auslese bewirkt, wie der züchtende
Mensch neue Formen mit Absicht durch künstliche Auslese
hervorbringt. Damit wurde das grosse philosophische Räthsel
gelöst: „Wie können zweckmässige Einrichtungen rein mechanisch
entstehen, ohne zweckthätige Ursachen?" (ffaeckcl's
„Welträthsel"). Es ist nicht nöthig, auch nur einen Augenblick
den blasphemischen Gedanken zu hegen, dass Goethe
sich mit dieser Lösung des „grossen philosophischen
Räthsels" einverstanden erklärt hätte; denn viele kleinere
Geister sind heutzutage längst dahintergekommen, dass es
mit dem ganzen Darwinismus, d. h. also mit der Selektionstheorie
, nichts ist. Die Analogie mit der künstlichen
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