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362 Psychische Studien, XXX. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1903.)
die Aussieht auf eine ferne Zukunft verdoppelt. „Denn
wenn es süss ist, zu leben, für wen kann es süss sein, gelebt
zu habenFerner heisst es bei Büchner: „Warum
sollen wir uns vor dem Eintritt eines Zustandes fürchten,
welcher sich in keiner anderen Weise von dem wohlthätigen
Schlaf unterscheidet, als dadurch, dass das Erwachen und
damit die Rückkehr zu dem gewohnten Dasein wegbleibt."
Auch wird dieser Trost mit ähnlich lautenden Citaten aus
klassischen Schriftstellern, namentlich mit einem Ausspruch
des Sokrates erhärtet, der (nach Plato) gesagt hat, ein tiefer
traumloser Schlaf sei jedem Tag auch des beglücktesten
Lebens vorzuziehen. Weiter heisst es, der Gedanke, dass
er in Zukunft nicht mehr da sein werde und dass die ganze
weitere Welt- und Menschheits-Entwickelung vor hich gehen
werde, ohne dass er selbst Zuschauer oder Theilnehmer
bleibt, könne den sterbenden Weisen ebensowenig quälen
oder beunruhigen, wie ihn der Gedanke beunruhigt, dass
er während einer endlosen Vergangenheit nicht da war;
hat sich jemals ein Mensch Sorgen oder Kummer darüber
gemacht, dass er nicht dabei war, als die Griechen Troja
belagerten oder als Alexander der Grosse den Erdkreis
unterjochte? —
Ferner wird behauptet, es liege in der Natur alles
Entstehenden mit Notwendigkeit, dass es wieder zu Grunde
gehe, und die ewige Dauer eines in der Zeit beginnenden
Wesens enthalte einen Widerspruch in sich selbst. Endlich
wird dem Unsterblichkeitsglauben vorgeworfen, er unterstütze
den Selbstmord und manche abscheuliche Sitten barbarischer
Völker, wie die Wittwenmordungen, das Opfern
von Weibern und Sklaven am Grabe hochgestellter Personen
u. dergl,, er verwandle die Sittlichkeit in einen Lohndienst,
er leiste einem fatalistischen Quietismus Vorschub u. s. w. —
(Fortsetzung folgt.)
Goethe und der Materialismus.
Von Hofrath Prof. Mtax Seiling».
(Fortsetzung statt Schluss von Seite 232.)
Der Naturforschung bleibt es immer und unter allen
Umständen verwehrt, in das innere Wesen, in den Kern
der Erscheinungen zu dringen; sie muss sich daran genügen
lassen, die Schale zu untersuchen. Ist diese Erkenntniss
von Richard Wagner einmal in die treffenden Worte gekleidet
worden: „Die Physik u. s. w. fördert Wahrheiten
zu Tage, gegen die sich nichts sagen lässt, die uns aber
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