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364 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 6. Heft. (Juni 1903.)
ohne Prüfung der Sachlage, für unmöglich erklärt. Ich
kann es mir an dieser Stelle ersparen, auf Einzelheiten
einzugehen, weil ich dies in der Protestschrift „Ernst Haeckel
und der Spiritismus" (0. Mutze, Leipzig) bereits gethan
habe. Ich bemeikc nur noch: Wer, wie die Materialisten,
„wahnsinnig" {Goethe) genug ist, Thatsachen apriorisch zu
leugnen *) und über Dinge redet, die er nicht kennt, ist
aller Wissenschaftlichkeit baar und hat keinen Funken
Goethe?$chei\ Geistes in sich.
Wenn die Stellungnahme zum Okkultismus mit Recht
als ein Prüfstein für die Vorurtheilslosigkeit und Weitsichtigkeit
eines Forschers betrachtet wird, dann besteht
Goethe diese Prüfung natürlich glänzend. Allerdings hat
er vermöge seiner sensitiven Natur verschiedene mystische
Dinge selbst erlebt; doch stehen diese Erlebnisse in keinem
Verhältniss zu der weitgehenden Zustimmung, mit welcher
er die grosse Mehrzahl der okkulten Phänomene (vom
Ahnungsvermögen bis zur Geistererscheinung) in den Kreis
seiner Betrachtungen gezogen hat. Da ich auch das Thema
„Goethe und der Okkultismus" in einer 56 Seiten umfassenden
, keineswegs aber erschöpfenden Broschüre (erschienen
bei Oi Mutze, Leipzig) bereits behandelt habe,**)
kann ich mich hier auf die Hervorhebung einiger wesentlicher
Punkte beschränken. Ich wüsste unter den Vertretern
des wissenschaftlichen Okkultismus — selbst du Prel nicht
ausgenommen — nicht einen einzigen zu nennen, der an
die okkulten Phänomene mit gleicher Unbefangenheit und
gleich weitem Blick herangetreten wäre, wie der Weimarer
Geistesfürst, Von den Aussprüchen Goethe'®, welche diese
Behauptung zu erhärten geeignet sind, kommt vor allem
das über die Seherin von Prevorst zum Kanzler Fr. v*
Müller Gesagte in Betracht: „Diese wundersamen Kräfte
müssen in der Natur des Menschen liegen.a Goethe
brauchte also zur Einsicht in die Existenz okkulter Kräfte
und Fähigkeiten nicht erst durch Thatsachen gebracht zu
werden, sondern er war von dieser Existenz vor aller Erfahrung
vermöge seiner genialen Intuition überzeugt. Ganz
besonders merkwürdig ist, dass die sämmtlichen Hauptmomente
der okkultistischen Philosophie, welche bekanntlich
*) G<>»the hat nämlich einmal geäussert: „Bas Allervorzüg-
lichste, was hervortritt, das Allermerk würdigste, was begegnet, wird
so lange verneint, als nur möglich ist. Dieser Wahnsinn unserer
Zeit ist auf alle Fälle schlimmer, als wenn man das Ausserordentliche,
weil es geschah, gezwungen zugab und dem Teufel zuschrieb/
**) Inzwischen sind in den „Psychischen Studien" zwei Nachträge
erschienen: 1902, 5'6 Heft und 1903, 1/2 lieft.
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