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Seiimg: Goethe und der Materialismus.
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macht die materialistische Wissenschaft es sich mit der
Frage von der Sittlichkeit der Weltordn ung»
Ilaeckel sagt z. B.: ,,In der gesammten Astronomie und
Geologie, in dem weiten Gebiet der Physik und Chemie
spricht heute Niemand mehr von einer sittlichen Weltordnung.
Dasselbe gilt auch von dem gesammten Gebiet der Biologie
." Daraus geht zweifellos hervor, dass das chemische
und das physikalische Laboratorium bei der Lösung der in
Rede stehenden Frage mitzusprechen haben. Angesichts
der Beschränktheit, welche der Materialismus in diesem
Punkte, wie freilich auch in vielen anderen, an den Tag
legt, kann man mit Nietzsche nur bedauern, dass die Schriftsteller
nicht als Missethäter angesehen werden, welche nur
in den seltensten Fällen Freisprechung oder Begnadigung
verdienen. Goethe aber, dessen ganze Denkweise ein
grosses Zeugniss zu Gunsten der Sittlichkeit der Weltordnung
ist, würde für das eben erwähnte Dekret Hacckel's
kaum etwas anderes übrig gehabt haben, als etwa die
Worte: „Gewissen Geistern muss man ihre Idiotismen
lassen."
Da andere Philosopheme mit den besprochenen in
nahem Zusammenhange stehen, kann ich mir ihre Erörterung
füglich ersparen, um jetzt noch auf ein letztes, aber nicht
geringes Unterscheidungsmerkmal hinzuweisen, auf das Ver-
hältniss zur Religion und insbesondere zum Christentum
. Wie bei der Berührung des Pantheismus oben schon
angedeutet wurde, ist es nur eine hohle Phrase, wenn der
Materialismus das Wort von der Einheit von Gott und Natur
in den Mund nimmt, da die Welt des Materialisten nichts enthält
, was die Bezeichnung Gott auch nur leise gerechtfertigt
erscheinen Hesse; fehlt es ihr doch an jedem inneren Zusammenhang
. Wiederum eine Phrase ist es, wenn Haeckel
behauptet: „Das ethische Bedürfniss unseres G e m ü t h s
wird durch den Monismus ebenso befriedigt, wie das logische
Kausalitäts - Bedürfniss unseres Verstandes." Wenn es
zwar genug Materialisten geben mag, deren Verstand keine
höheren Ansprüche macht, so muss man denn doch bezweifeln
, ob ein noch so armes Gemüth sich von den
materialistischen Lehren vollkommen befriedigt fühlen kann.
Wohlgemerkt, es handelt sich um die Gemüthsbefriedigung
eines Wesens, das sich darüber klar geworden: dass es
keine einheitliche Selbständigkeit besitzt, sondern nur ein
zufälliges und sinnloses Aggregat von Chemikalien ist; dass
ihm an äusserster Bedeutungslosigkeit der winzigste Bacillus
nicht nachsteht; dass es mit dem Tode der definitiven
Vernichtung anheimfällt; und dass ihm das Bewusstsein,
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