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Seiling; Zur Geschichte des Professorenthums.
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pfiffig ist die vom Anonymus getroffene Auswahl zweier in
meiner Goethe- Schrift vorkommenden Citate, nach welcher
Goethe ihn und seines Gleichen von der Beschäftigung mit
dem Okkultismus enthebt. Das eine, auf einen miss-
bräuchlichen Okkultismus gewiss anwendbare bezieht
sich auf die „Ehrfurcht vor der uns umgebenden geheimnissvollen
Macht*', während das andere nur vom unredlichen
Spürsinn des Sophisten herausgefunden werden konnte. Es
sind die Worte, die Goethe im „Deutschen Gil-Blas" im
Anschluss an die Erzählung eines kleinen Abenteuers geschrieben
hat, das ich auf S. 10 meiner Schrift als Beispiel
für Goethe's Glauben an eine höhere Führung wiedergegeben
habe; sie lauten: „Ahnt man nun, dass solche
Zufälligkeiten durch einen unerforschlichen Willen gelenkt
werden, und man gefällt sich in dieser Betrachtung, so
hüte man sich ja, dergleichen Szenen selbst herbeiführen
zu wollen". Dadurch, dass der Anonymus den Nachsatz
gesperrt drucken Hess, und dass er lediglieh hinzufügte:
,,die Nutzanwendung ?rgiebt sich von selbst", beging er
die nur unter der Plagge der Anonymität mögliche Verdrehung
, um nicht zu sagen Fälschung, dem mit dem
Zusammenhang nicht bekannten Leser glaubhaft zu machen,
dass Goethe mit jenen Worten, die mit dem Spiritismus
gar nichts zu thun haben, sich auch gegen das spiritistische
Experiment erklärt haben würde. Abgesehen davon, dass
man dieser unredlichen Auslegung z. B. entgegenhalten
könnte, was Goethe im Dezember 1827 an Zelter geschrieben:
„Um sich gewisse geheim - verwickelte Dinge zu erklären,
muss man es an allerlei Versuchen nicht fehlen lassen",
— müssten von der wissenschaftlichen Betrachtung auch
die zahlreichen spontanen Erscheinungen des Okkultismus
ausgeschlossen werden, von denen der Anonymus
wahrscheinlich überhaupt nichts weiss. —
Erwägt man, dass die Richter in gewissen Fragen
sich wohl oder übel auf den Standpunkt der wissenschaftlichen
Sachverständigen stellen müssen (wie sie es auch im
Kali Rothe gethan), dann dürfte eine Untersuchung über
den Werth fachmännischer Urtlieile, bezw. eine nähere
Betrachtung der Vertreter der Zunftwissenschaft gewiss
am Platze sein. Dies umsomehr, als uicht etwa nur die
Richterkollegien die vom Staate bestellte Wissenschaft anerkennen
, sondern weil die blinde Anbetung der „Wissenschaft
", insbesondere der materialistischen, das erste Merkmal
der modernen „Bildung" ist, und namentlich ein grosser
Theil der Tagespresse, aus welcher ja die Mehrzahl ihre
einzige Belehrung schöpft, mit diesem Götzen und seinen
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