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„ * „ Unerforschte Begebenheiten.
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Unerforschte Begebenheiten.
Aus dem Seelenleben einer Frau.*)
In nachfolgendem Berichte lege ich zaghaft und mit
grosser Selbstüberwindung das heiligste Gefühl eines Frauen-
herzen3 auf den iUtar der Wissenschaft nieder, und zwar
mit der ausdrücklichen Hinzufügung, dass ich absichtlich
aus Rücksicht auf die noch lebenden Personen alle näheren
Angaben beschränken werde. Hoffentlich genügt meine
Versicherung, dass die Thatsachen wahrheitsgetreu hier
mitgetLeilt werden, allerdings, der nöthigen Kürze wegen,
mit Weglassung unwichtiger Einzelheiten.
Vor Jahren lernte ich bei einem vorübergehenden
Aufenthalte in fremder Stadt einen dort ansässigen Herrn
— einen Gelehrten — kennen. Das erste Sehen war für
uns beide entscheidend; weiteres Zusammenkommen festigte,
was das erste begonnen. Einer Verbindung standen pekuniäre
Verhältnisse entgegen; dann aber machte ihm auch
Sorge, ich könnte infolge eines Unfalls, den ich durch Unvorsichtigkeit
meines Mädchens erlitten, einen dauernden
Schaden haben. So trennten wir uns als Freunde, wie er
es beim Abschiede erbat. — Jahre vergingen, ich war ein
Bild blühendster Gesundheit und Kraft, da führte uns
das Schicksal wiederum zusammen; seine beredten Blicke,
mit denen er meine Augen suchte, sagten mir: Zeit und
Trennung hatten nichts geändert. Dies war im Herbste
189—. Das darauf folgende neue Jahr begrüsste ich in
Berlin unter Verwandten und Bekannten. Am Sylvesterabend
war ich in grosser Gesellschaft. Gegen zwölf Uhr
führten die Gastgeber sämmtliche Anwesenden theils an
die geöffneten Fenster, theils auf den Balkon, um das vielstimmige
Glockengeläute zu hören, das eigenartige, bunte
Strassenbild zu schauen; ich stand auf dem Balkon inmitten
einer frohbewegten Menge. Da hub die Uhr an, das Ende
der letzten Stunde des alten und damit den Beginn des
neuen Jahres zu verkünden. Lautes Jauchzen und Beglückwünschen
schlug an mein Ohr, Hände wurden geschüttelt
und mich — schüttelte plötzlich eine namenlose
*) Von einer sehr geschätzten Mitarbeiterin der „Psych. Stud."
erhielten wir obigen, das Interesse des psychologischen Forschers lebhaft
fesselnden Beitrag, jedoch unter der bei der seelischen Feinfühlig-
keit dieser Dame begreiflichen Bedingung, die Arbeit auf jeden Fall
- mit Rücksicht auf die betheiiigten, noch lebenden Personen —
ohne Nennung irgend eines Namens ?auf Treu und Glauben" zu
veröffentlichen, wobei uns die Persönlichkeit der Einsenderin vollkommen
für die Wahrheit de* Berichteten bürgt. — Üed.
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