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422 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1903.)
für zeitliche Sünden. Sie könnte man daher dem Unsterblichkeitsglauben
mit grösserem Rechte vorwerfen, wenn dieser
Glaube an sich wirklich die Schuld daran trüge. Dies ist
jedoch nicht im Mindesten der Fall; nur die fanatische
Wuth bornirter Pfaffen konnte dergleichen erfinden und
fortzupflanzen suchen. —
Schliesslich seien hier noch einige allgemeine Argumente
der Materialisten erwähnt, von denen man nicht weiss, ob
man dieselben als dumme Spässe hinnehmen oder sie im
Ernste beantworten soll. So heisst es, die Vorstellungen
der Christen, Muhammedaner und überhaupt fast aller
Religionen, die eine Unsterblichkeit postuliren, seien durchweg
grob materialistisch, indem allda von Aufeistehung
des Fleisches, von allerhand sinnlichen Freuden dieser
unserer materiellen Existenz u. s. w. die Rede sei. Falls
aber das Bild, unter dem sich die Athanatisten ein künftiges
Leben nach dem Bilde des einzigen, ihnen zugänglichen
Lebers sich vorstellen, genügt, um sie des krassesten Materialismus
zu beschuldigen, — ei, so sind sie ja gute Kollegen
der Thanatisten und jeglicher Streit zwischen beiden Parteien
muss ruhen. Wie in vielen anderen Fällen, nehmen die
Materialisten eben auch hier die Schale für den Kern.
Eine andere oft gehörte spöttische Bemerkung der Materialisten
betrifft die „Wohnungsnoth", in der sich die
verstorbenen Seelen hinsichtlich des Raumes befinden
sollten. Hierbei ignorirt man die offenkundige Thatsache,
dass schon in unserer sichtbaren Welt ein und dasselbe
materielle Theilchen höchst verschiedene Grade von Kraft
repräsentiren, dass z. B. der Geist eines genialen Menschen
so viel, wie Tausend alltägliche bedeuten kann, und dabei
doch sein Hirn kaum um einige Bruchtheile grösser und
schwerer als die Gehirne jener ist. (Fortsetzung folgt)
Goethe und der Materialismus.
Von Hofrath Prof. Max Selling'.
(Scnluss von Seite 368.)
Und nun gar Materialismus und Christenthum 1 Hier
kann freilich nicht etwa von Beziehungen die Rede sein,
sondern höchstens danach gefragt werden, was der typische
Materialist vom Christenthum weiss und wie er es bewerthet.
Haeckel hat uns selbst berichtet, dass man ihm vorgeworfen,
er verstehe vom Christenthum so viel, wie der Esel von
den Logarithmen. Nach der Art und Weise zu urtheilen,
wie er das Christenthum in den „Welträthseln^ angegriffen
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