http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0371
438 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1908.)
Carlo und dem Felsen von Monaco direkt am Meere in
anmuthigen Terrassen erhebt. Nebenbei bemerkt, kann ich
nur allen Touristen rathen, ebenfalls sich in Condamine einzulogieren
, schon aus dem Grunde, weil der Weg von da
bis zum Kasino mindestens eine gute Viertelstunde beträgt.
Wenn sich nun der Tourist des Mittags ins Kasino an die
Arbeit begeben will, so verliert er mindestens eine Viertelstunde
Zeit, in der er gezwungen ist, sich des Spieles zu
enthalten. Jede Minute aber, in der er diesem Zwang ausgesetzt
ist, ist für ihn als Gewinn zu betrachten, — eine
neue Illustration der alten bewährten Begel „Zeit ist Geldtf.
Dort also in Condamine bewohnte ich ein hübsches Zimmer
bei einer jungen Wittwe, deren Mann vor drei Jahren das
Zeitliche gesegnet hatte und die sich nun schlecht und
recht von der Fremdenindustrie nährt. Jeden Mittag und
Abend, wenn ich vom Tournierlokal nach Hause kam,
begab ich mich in den Salon der Wirthin, um dort meine
tagsüber gespielte Partie noch einmal durchzuspielen oder
abgebrochene Partien zu analysiren. Ich betone übrigens
ausdrücklich, dass mich keinerlei anderweitige Motive in
das Zimmer der Wirthin führten, wie vielleicht der geehrte
Leser annehmen möchte, der meine tadellose Korrektheit
ja nur auf dem Schachbrett kennt; es war wirklich nur die
Scheu vor der Einsamkeit, und dann ziehe ich es auch vor,
das Zimmer anderer Leute vollzurauchen, als mein eigenes.
Während ich meine Schachstudien trieb, sass die Wirthin
immer ruhig da, auf dem Schoosse ihr Kind, einen
Säugling von knapp einem Jahre haltend.
Beide sahen mir oft stundenlang zu, und besonders das
Kind, dessen Betragen übrigens stets von sorgfältiger Erziehung
zeugte, musterte immer das Brett und die Schachfiguren
mit einem geradezu intelligenten Gesichtsausdruck,
als ob es das Spiel verstünde, Eines Tages kam ich
Mittags in ziemlich ärgerlicher Stimmung nach Hause.
Meine Partie mit dem genialen Amerikaner Marshall
war abgebrochen worden m einer Stellung, die für mich
keineswegs sehr aussichtsvoll war. Zwar hatte ich einen
Bauer mehr, aber die allgemeine Ansicht war, dass mein
Gegner die Partie würde „ remis * halten können. Ein
„Remis" aber würde meine sehr guten Aussichten auf den
ersten Preis empfindlich gestört haben, da der anscheinend
unbesiegbare Ungar Maroczy mir dicht auf den .Fersen
war, Missmuthig stellte ich mir die abgebrochene Partie
auf (vergleiche das folgende Diagramm), während meine
Wirthin und ihr Sprössling mir wie gewöhnlich zusahen.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0371