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458 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 8. Heft. (August 1903,)
ehrenhaft, hypersensitiv veranlagt und ernährte sich
durch ein Handwerk. Noch 1874 wurde das Verlangen
der Familie Naundorff, die Identität ihres Vaters mit dem
Dauphin Ludwig Karl gerichtlich festzustellen und dem-
gemäss das Civilstandsregister zu ändern, durch den so bekannten
Staatsmann Jules Favre vertreten, ebenso wie heute
noch eine kleine Gemeinde in Frankreich an die Legitimität
dieses Louis XVII. glaubt und sich „sauveurs de Louis XVII.a
nennt. Uns interessirt hier nur, dass dieser selbe Naundorff,
welcher aus Preussen (Spandau) resp. Sachsen kommend,
am 26. Mai 1833 in Paris anlangte, sich auch laut rühmte,
Todtkranke durch Streichen geheilt zu haben; er wollte
wohl gerade durch diese Gabe der „Königsheilung4*,
welche ja allen Königen Frankreichs eigen sein sollte (siehe
unsere Angaben im Junihefte 1902, p. 332) seine Legitimität
erweisen. Am 13. September desselben Jahres kam er mit
dem Seher Ignaz Martin, welcher schon 1816 Ludwig XVIII.
gesagt hatte, dass ein legitimer Sohn seines Bruders existire,
zusammen und dieser Martin soll in Naundorf den Dauphin
erkannt haben. (Uebrigens auch einige andere Zeugen,
welche den Dauphin seit seiner Geburt gehütet hatten.)
Aus Frankreich 1836 (auch durch Attentate) vertrieben,
kam der Prätendent nach mancherlei Wanderungen nach
Delft in Holland, wo er 1845 am ominösen 10. August,
dem Jahrestag der Entthronung Ludwins XVL} starb. Ab
1833 hatte er Visionen gehabt und sich einem Swedenborg1-
sehen Mystizismus ergeben, wie seine 4 Bücher himmlischer
Offenbarungen beweisen.*)
Denjenigen Dichter, der als Lyriker erfolgreich mit
V. Hugo gewetteifert hat, wollen wir kurz erwähnen: Alfred
de Mussei (1810—1857). Er ist eine empfindsame Werthernatur
, dabei aber eitel, innerlich haltlos, ein — ohne
rechte Freude — von Genuss zu Genuss taumelnder
Schwächling. Man hat ihn, ob des Grundtons des Leides,
der seine Dichtungen durchzieht, den Byron Frankreichs
genannt, und auch in der Form und Art seiner Dichtungen
gleicht er diesem Genius. Freilich ist er nicht
so weltumspannend und greift nicht in die tiefsten und
letzten Probleme des Seins hinein; seine bittere Melancholie
ist eine persönliche und er heuchelt niemals: „Cclui-
lä au moins n'a jamais menti", wie Taine von Müsset so
richtig meint. Schlicht sagt dieser das Alles in dem Sonette
„Tristesse":
*) Cfr. C. B. v. Vesme: ,> Gesch. & Spirit/ III. Bd. 141 ff. und
Fr. Bitlau: „Geheime Geschichten und rätselhafte Menschen",
IV. Bd. (Ph. Reclam's Universal-Bibl. Nr. 3214.)
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