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486 Psyohisobe Studien. XXX, Jahrg. 8. Heft. (August 1903.)
die Humanität ihrer Verneiner höher als die der Erfinder
ewiger Höllenstrafen. Bedenkt man aber, dass man es doch
thatsächlich mit einem Leben zu thun hat, wo einem gewissen
Theil der Lebenden das unbezwingbare Uebel zu
Theil würde, so bleibt dieser Fraktion der Menschheit nach
materialistischen Prämissen prinzipiell nichts übrig, als
das Dasein zu verwünschen und das Nichtsein für das Bessere
zu erklären; dies aber ist schon Pessimismus. Selbst wenn
die Rolle des nicht bezwingbaren Uebels viel kleiner als in
Wirklichkeit wäre, so hätte der Verneiner diesem, wenn
auch kleinen Bruchtheil der Lebenden nur die Rückkehr in
das Nichts als höchstes Gut zu predigen, was im Grund
schon so viel wie faktischer Pessimismus ist. Denn der
Vorurtheilsfreie muss unter solchen Umständen unfehlbar
bei der Folgerung anlangen, dass ein Weltsystem, in dem
ein gewisser Bruchtheil der fühlenden Wesen, sowohl in der
Vergangenheit und Gegenwart, als auch auf unerforschbare
Zeiten hinaus, zu unverschuldeten Leiden verdammt ist, und
wo demselben nichts als die Vernichtung soil helfen körinen,
schon aus diesem Grunde um Weniges besser ist als jene
scheussliche, glücklicher Weise nur in pfäffi-
schcr Einbildung existirende Jenseitswelt, in
welcher ein Theil der Menschen selig sein, der
andere sich in nie endensollenden Qualen ihre durch die
Schwachheit der menschlichen Natur bedingte Sünden büssen
Soli. Ist daher ein Materialist schon bei dem Geständniss
angelangt, dass allerdings den vom unbezwinglichen Uebel
Heimgesuchten kein anderer Trost, als die Aussicht auf
einen ewigen Tod übrig bleibt, so erscheint seine Heraus-
staffirung des übrigen Lebens, d. h. desjenigen, welches zufällig
nicht unter das zermalmende Rad gerieth, — im besten
Falle als inkonsequent — oder vielmehr als ein Beweis
dafür, dass das Bild jener unzähligen unwiderruflich Unglücklichen
sein Bewusstsein genug verfolgt, um ihm den
Gesammtwerth eines derartig gestaltet sein sollenden Lebens
vollständig zu vergällen. Für dergleichen Gefühlsgrillen
hat er vielleicht das Wort „ Ueberempfindsamkeit", doch
gehört die Zukunft, dem Fortschrittsgesetz zufolge, gerade
den nach seiner Ansicht Ueberempfindsamen, d. h. Solchen,
denen besagte Dissonanzen die „Harmonie11 des Uebrigen
verderben.
Und nimmt man zu obigen Betrachtungen noch hinzu,
dass bei normalem Gefühle selbst den Glücklichen, d. h.
den sich in der Werthphase des Lebens Befindenden, die
Aussicht auf eine ewige Trennung von allem und allen Geliebten
härter erscheint, als die Möglichkeit, gar nicht ge-
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