http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0430
496 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 8. Heft. (August 1903.)
liehe Entwickelung nach keiner Richtung für bestimmt genug
, um einen solchen Maassstab zu gestatten, so dürfte als
normal derjenige Mensch zu gelten haben, der die dem
ganzen Geschlechte eigentümlichen Fähigkeiten in vollem
Besitz hat, — sie mögen über oder unter der Schwelle
liegen.
Die subliminale Fähigkeit kommt nun zu vollster Wirkung
bei dem Genie. Man kann die geniale Inspiration
einem subliminalen Auftriebe vergleichen, wobei also gewisse
unter der Schwelle gereifte Ideen in das gewöhnliche Be-
wusstsein eintreten. Oder man kann, nach unserm Bilde
vom Spektrum, den Hergang mit dem Aufleuchten der
dunklen Linien durch Einschaltung von Dämpfen vergleichen.
Von einer gewissen Schule moderner Anthropologen wird
freilich eine ganz andere Auffassung des Genies vertreten:
als ob es in gewissem Sinne ein abweichender oder entarteter
Typus sei, dem Verbrecher und dem Irrsinnigen nahestehend.
Die angeblichen nervösen Störungen genialer Menschen,
worauf sich dies Paradoxon gründet, entspringt zum grossen
Theil aus müssigem, anekdotenhaftem Geschwätz. Soweit
dergleichen wirklich vorkommen, weisen sie auf die Instabilität
hin, die bei einer sich rasch ändernden Gattung denjenigen
Organen eigen ist, die am entschiedensten in der
Weiterbildung begriffen sind. Es giebt eben eine Störung,
hinter der sich eine Entwickelung verbirgt; und gerade wie
bei der Geburt eines Kindes oder beim Eintritt in das
reichere Gefühlsleben des Jünglingsalters mancherlei als
störend und fremdartig erscheint, so mag wohl auch eine
solche Neugeburt, ein solcher Eintritt in eine erweiterte
Gefühlswelt, wie sie sich im günstigen Falle auch in diesem
Erdenleben entfalten kann, mit Ueberanspannung und Störung
des einer früheren Phase angepassten seelischen Organismus
verbunden sein. Also nicht dem Verbrecher oder
dem Irrsinnigen ist das Genie nahezurücken, sondern viel
eher dem Kinde.
Kapitel IV behandelt den Wechsel, den die menschliche
Persönlichkeit regelmässig zu durchlaufen hat — zwischen
Wachen und Schlaf. Der Schlaf erscheint als
eine Phase der Persönlichkeit, die unsere Existenz in unsrer
geistigen Umgebung zu erhalten und dadurch unsern physischen
Organismus zu kräftigen bestimmt ist. Schlaf und
Wachen sind Phasen, die sich aus einem früheren mehr
gleichförmigen Zustande entwickelt haben, — und zwar das
wachende Leben unter dem Einflüsse der praktischen Bedürfnisse
, während der Schlaf äusserlich dem primitiven Zustande
noch nahe steht, wenn er auch in seinen Beziehungen
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0430