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Dackmar: Geistige und soziale Strömungen etc. 525
Schilderer. Selbst wenn er Elend und Laster in der fürchterlichsten
Gestalt schildert, Ungeheuer, wie den Galeerensträfling
Vautrin („Narrt den Tod" genannt), wird uns das
durch die dichterische Gluth, die Alles belebt, erträglich
gemacht. Balzac sieht nicht — wie mancher moderne Naturalist
— nur Laster, Schmutz und Verbrechen, sondern
daneben auch Grosses und Edles, das Licht neben dem
Schatten. Und wie scharf ist sein Blick, freilich ohne
sichere Perspektive! Das Gewöhnlichste, scheinbar Unpoetische
, kann er durch seine meisterhaft sinnliche Schilderung
poetisch beleben; er schuf die Poesie der Börsenspekulation,
des Grossfinanzthums, des Gelderwerbs; er analysirt und
verklärt quasi die Arbeit und das Fallissement des wackeren
Pariser Parfumeurs Gisar Birotteau, eröffnet dabei aber doch
wieder unendliche Perspektiven, welche auf ein geheimnissvolles
Land hinweisen. Balzac ist Pessimist und Humorist,
B'aun und mystischer Asket zugleich, ein Cyniker, der zum
Katholizismus neigt. Aber er war katholisch aus Gewohnheit
, sich der Oeberlieferung anpassend.
Dieser „Begründer der modern-realistischen Schule"
ist im Grunde kein moderner Mensch. Eigenthümlich verworren
und zerfahren sind die 50 Jahre seines Erdendaseins.
Er verdiente ungeheure Summen mit seinen Romanen, trotzdem
hatte er fast nie Geld, ja oft Schulden, die er redlich
abtrug. Ehe er berühmt wurde (mit „La peau de Chagrin"),
wohnte er in einem Dachstübchen, dann in herrlichen Salons,
in seinem unpraktisch eingerichteten Landhause. Er ist so
recht der Erfinder der „bric-ä-bracu-Manier; die kostbarsten,
erlesensten Raritäten — alte Möbel, Bilder, herrliche Teppiche
, Vasen, seltene Bücher, Uhren u. s. f. — füllen sein
Gemach, und dabei ass er sich oft nicht satt! In seiner
weissen Dominikanerkutte, schweren Kaffee trinkend, sass
er mitten unter seinen Kostbarkeiten, stand um Mitternacht
auf und arbeitete oft 16—22 Stunden täglich, um Geld zu
verdienen. Er ist das Entsetzen aller Drucker: 6—7 Korrekturen
fordert er, und auf der letzten steht fast kein
Wort mehr so, wie es im Manuskripte stand. Ende des
vierzigsten Lebensjahres ereilt ihn wieder eine finanzielle
Katastrophe, die ihn um Alles bringt: er wandert aus
seinem luxuriösen Salon wieder iu's Dachstübchen und legt
sich — wie er selbst schreibt — „gerade das Maass von
Nahrung auf, welches nöthig ist, um nicht Hungers zu
sterben". Zu einer Polin, einer Gräfin Hanska, hegte Balzac
eine schwärmerische Liebe; erst als sie und er 50 Jahre
alt sind, kann er sie ehelichen (März 1850), 2 Monate später
ereilt ihn der Tod. Er ist, trotz Rabeiah7scher Zoten, ein
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