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526 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 9. Heft. ^September 1908.)
sittlich reiner Mensch, von einer unendlichen, sensitiven
Zartheit des Gemüths gewesen.
Balzac schildert uns das Paris der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts, wie es vor ihm Keiner geschildert. Er
schildert nicht das junge Mädchen, wie his dahin üblich, als
Gegenstand der Liebe, sondern oft die „Frau von 30 Jahren"
in physiologischer und psychologischer Hinsicht. Das „ganze
stumme Elend des schwachen und duldenden Geschlechts"
schildert er. Er schildert sittliche Venrrungen und anormale
mystische Naturen: mit rücksichtsloser Analyse
dringt er in die Tiefen des seelischen Lebens. Es hat Bewunderer
Balzac^ gegeben, die ihn mit Shakespeare verglichen
haben, und in der That ringt er in „Pere Goriot"
(1834), einem König Lear en miniature, um die Palme mit
jenem; und Brandes meint, wenn er auch nicht poetische
Kiaft genug hatte, eine Cordelia zu schaffen (was er in
dem Romane allerdings auch gar nicht versucht), so „habe
er es verstanden, eine Regan und eine Goneril menschlicher
und wahrer, als der grosse Brite, zu bilden".*) — Er hat
eine Mikroskopie der Schilderung geschaffen, die ebenso
interessant ist, als sie nur zu oft ermüdend wirkt Ereilich
liegt es im innersten Wesen des Realismus, hauptsächlich
Stil für Kleinkunst zu sein. Man lese z. B. nur die
unvergleichliche Schilderung der Pension der Madame
Vauquer, geb. von Conflans, gleich zu Anfang von „Vater
Goriot** und sichtbar, greifbar, riechbar wird diese Baracke
vor Einem stehen!
Balzac schuf zuerst mit seiner „Comedie humaine" den
Begriff des „Rahmen"-Romans, wobei ein Roman mit
dem andern (sich oft über Jahrhunderte ausdehnend) durch
gewisse Figuren und Verkettungen zusammenhängt. (Gustav
Freytag hat uns Deutschen in seinen herrlichen „Ahnen"
einen solchen Rahmen-Roman geschenkt.) Balzac wollte
damit, die Historiographie ergänzend, eine Geschichte der
Sitten und Gebräuche, eine Zusammenstellung aller Tugenden
und Laster der betreffenden Zeiten liefern. Er sagt
selbst: „Die Gesellschaft macht aus dem Menschen, je nach
der Umgebung, in welcher sich seine Handlungsweise entfaltet
, ebenso viele verschiedene Menschen, wie es in der
Zoologie Varietäten giebt", womit er die Lehre vom Milieu
andeutete, welche später H. Taine (der ihm ja auch in der
Mikroskopie gleicht) ausgeführt hat. Obwohl Balzac das
tiefere Verständniss für die Probleme des Sozialismus fehlte,
*) G. Brandes; a. a, O., p. 207.
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