http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0461
Dankmar: Geistige und soziale Strömungen etc. 527
hat man ihn doch mit Grand den „Naturforscher des
menschlichen Geistes" genannt.
Ist er politisch und religiös also sozusagen etwas rück-
ständig zu nennen, so ist er doch Skeptiker genug, um
(z. B. in „Eugönie Grandel) alle Abgründe des Lasters,
des Geizes, des Egoismus zu öffnen und die faszinirende
Macht des Goldes aufzuzeigen. Dabei ist dieser Skeptiker
nicht nur Porträtist, sondern Seher. Er lebt mit seinen
Gestalten, fühlt, leidet und lacht mit ihnen, so dass er oft
an die Fiktion glaubt: sie wären für ihn wirklich vorhanden.
Er sprach von den Geschöpfen seiner Phantasie, wie von
existirenden Personen. Er war N a c h t arbeiter, seine ganze
Schriftstellern ist Nachtarbeit: „ein Gemisch aus Hellseherei
und Schläfrigkeit". Dem entspricht auch sein Stil:
oft hinreissend, oft nachlässig. Zum Hellsehen und zur
Schläfrigkeit kommt noch ein Drittes: der starke Mokka.
Aus dem Allem heraus produzirte Balzac. So wurden ihm
seine Gestalten zur Wirklichkeit, er selbst ein Hypnotisirter:
der Skeptiker wird zum Mystiker. Und auf den Mystiker
Balzac haben wir noch einen Blick zu werfen.
Dem Mystischen, dem Uebersinnlichen hat Balzac gehuldigt
. In tiefsinnigen Symbolen hat er es uns dargestellt
. Gleich in seiner „La peau de chagrin" bekommt
Raphael, ein Wüstling, der Selbstmord begehen will, von
einem Juden ein Pell geschenkt, welches die Kraft besitzt,
alle Wünsche zu erfüllen; aber durch jeden realisirten
Wunsch wird es kleiner und, sowie es zu Ende ist, endet
das Leben des Besitzers. Der Roman steckt voll Mystik
und ist ausgefüllt mit spukhaftem Beiwerk k la Hoffmann,
der ja in Prankreich fast der am meisten gelesene deutsche
Schriftsteller der damaligen Zeit war. Allegorisch will der
Dichter andeuten: unsere Begierden tödten uns — das Leben
tödtet allein das Leben. „Wollen verzehrt uns, Können vernichtet
uns; aber Wissen lässt unsere gebrechliche Organisation
in einem fortwährenden Zustande der Ruhe**, sagt
der geheimnissvolle Greis, der Raphael die Haut giebt.
Charakteristisch ist, dass unser Raphael — wie später Balzac7s
Louis Lambert — eine Theorie des Willens geschrieben
hat, worin er meint, dass der menschliche Wille eine materielle
Kraft sei wie der Dampf. —
Auch in dem schon mehrfach erwähnten „Vater Goriot"
finden wir einen ganz interessanten Gedankensplitter, der
die Gedankenübertragung behandelt: „Wahrscheinlich
fliegen die Gedanken je nach der Kraft, mit der sie
entstehen, und schlagen da, wohin das Gehirn sie sendet,
nach mathematischem Gesetze ein, sowie auch die Bomben
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0461