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632 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 9. Heft. (September 1903.)
Wie steht es nun ferner mit der oft und gern betonten
Ueberzeugu n gs treue, die den deutschen Professor
ganz besonders auszeichnen soll? Nach einer Seite
hin, und zwar nach der wichtigsten, lässt sich die Frage
ganz einfach durch die Statistik unfehlbar beantworten. In
Bayern — und in anderen deutschen Staaten ist es jedenfalls
nicht wesentlich anders — befindet sich unter den
mehr als 300 nichttheologischen Universitätslehrern nicht
ein einziger konfessionsloser, sondern die Herren
sind Katholiken, Protestanten oder Israeliten! Ein Kommentar
ist überflüssig. Nur eine Einfalt vom Lande könnte
fragen, wie es kommt, dass die Schüler dieser bibelgläubigen
Lehrer grösstentheils Materialisten, Atheisten oder bestenfalls
verschwommene Pantheisten sind. Aber auch abgesehen
vom religiösen Bekenn+niss wird ausser Phrasendreschern
Niemand im Ernste behaupten wollen, dass dem
Beispiel der Göttinger Sieben von unseren heutigen Professoren
gegebenen Falles massenweise gefolgt werden würde.
Viel eher wird man fragen dürfen, ob es solche Ausnahmen
wie jene Tapferen in unserer heuchlerischen und kriecherischen
Zeit überhaupt noch geben mag. — Dass es unter den
Professoren Okkultisten giebt, die nicht den Muth haben,
ihre Ueberzeugung ganz oder auch nur theilweise zum
Ausdruck zu bringen, steht ausser allem Zweifel. Selbst
auf viel weniger schlüpfrigem Boden ereignet es sich, dass
aus streberischen und anderen Gründen mit der Üeber-
zeugung hinter dem Berge gehalten wird, In dieser Beziehung
machte mich der Zufall mit einem recht vielsagenden
Vorkommniss bekannt. Der Oberbürgermeister einer
deutschen Stadt erkundigte sich bei einem mir bekannten,
weltklugen Herrn, ob ein gewisser, mit Namen genannter
torischen Schule*), welcher im Jahre 1867 die Universität Tübingen
wegen eines Pressangriffes auf den damaligen Kultusminister Golther
verlassen musste, that vor wenigen Jahren einer seiner Nachfolger
auf dem dortigen Lehrstuhl für Geschichte, in dem von Studierenden
und Stifts-Repetenten begründeten „staatswissenschaftlichen Verein*.
In einer Diskussion, die sich an seinen glänzenden Vortrag über
englische Verfassungskämpfe anschloss, äusserte er — mein Gewährsmann
erinnert sich nach so langer Zeit an den Wortlaut
im Einzelnen natürlich nicht mehr genau — ungefähr Folgendes
: „Damit, meine Herren, kämen wir aber mit logischer Notwendigkeit
zu Konsequenzen — er meinte die von Karl Marx
begründete „materialistische" (besser: „ökonomische") Geschichtsauffassung
, wornach auch die geistigen Fortschritte durch Veränderungen
in den wirtschaftlichen Verhältnissen bedingt sind —, gegen
welche ich mich grundsätzlich mit Händen und Füssen sträuben
muss, weshalb ich vorziehe, nicht weiter auf diesen (sozialdemokratischen
) Einwand einzugehen. — S,
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