http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0471
Seiling: Zur Geschichte des Professorenthums. 537
Höher als die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung
steht die ethische Forderung, dass wir dem Thiere nicht
nur Mitleid, sondern auch Gerechtigkeit schuldig sind. Und
dass die ganze Frage nicht vor das Forum des Wissens,
sondern vor das des Gewissens gehört, scheint sogar die
Mehrzahl der Vivisektoren, wofern nicht etwa Furcht vor
dem Strafrichter oder vor dem Versuch am eigenen Leibe
dahinter steckt, noch zu fühlen, weil sie vor dem Menschen,
der eventuell das einzig richtige Versuchsobjekt wäre, Halt
macht. Eine wenigstens konsequente Minderzahl ist freilich
zum Schaden wehrloser armer Leute, unter Zustimmung
Virchow's (!), längst anderer Ansicht geworden. Selbst wenn
die Vivisektionen grossen Nutzen brächten, wäre ihre Berechtigung
anzufechten, wenn anders man eben nicht dem
Grundsatz „der Zweck heiligt die Mittel" unbeschränkte
Giltigkeit zuerkennen will. Da hätten wir, beziehungsweise
haben wir wieder eine recht dicke Voraussetzung! Den Jesuiten
wird jener sonst so verächtliche Grundsatz bis zum
Ueberdruss vorgeworfen} ,,kernhaft gesinnte" Professoren
aber sanktioniren ihn ausdrücklich und bethätigen ihn Tag
für Tag. Dem materialistisch gesinnten Vivisektor mögen
ja sittliche Bedenken trotz seinem (freilich nur heuchlerischen
) christlichen Bekenntnisse recht lächerlich erscheinen,
da er von der Voraussetzung (sie!) ausgeht, dass selbst der
Mensch nur ein zufälliges Konglomerat von Chemikalien
ist, das, wie uns Haeckel versichert, an Bedeutungslosigkeit
dem winzigsten Bazillus nicht nachsteht. Wenn aber die
Vivisektoren bei ihrem „naturwissenschaftlichen Denken"
von falschen und unmoralischen Voraussetzungen irregeleitet
sind und dies nicht zu erkennen vermögen, dann wäre es
eben eine ernste Pflicht ihrer „tief sittlichen" und für die
Ehrfurcht sonst so begeisterten Kollegen, gegen das vivi-
sektorische Treiben zu protestiren, eingedenk dessen, was
viele grosse Männer hierüber gesagt haben und was z. B.
der Aesthetiker Fr. Th. Fischer in die Worte gekleidet hat:
„Jeder Schmerzenslaut des namenlos gequälten Thieres ist
eine Anklage gegen die Wissenschalt, dass sie, welche die
Hüterin der Humanität sein sollte, Anleiterin zur Unmenschlichkeit
wird.a —
Von den Eigenschaften, welche den deutschen Professor
auszeichnen sollen, sei schliesslich noch der „Glaube
an das Idealeu auf eine Probe gestellt. Als ßeurtheiler
dieses eben schon gestreiften Punktes dünkt mich Heinrich
Driesmansj der Verfasser des Buches „Die plastische Kraft
in Kunst, Wissenschaft und Leben" ganz besonders kompetent
zu sein. Wenn ich auch nicht alle in seinem Werke
Psychische Studien. September 1903, 35
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0471