http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0478
544 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 9. Heft. (September 1903.)
ergoss sich sogleich seitens einiger unter ihnen ein ganzer
Strom von Sticheleien und Sarkasmen über mich: wie es denn
nur noch immer gelehrte Akademiker und noch dazu aktive
Minister und Staatsmänner unterm Himmel geben könne, die
an ein im voraus bestimmtes Schicksal und an die Möglichkeit
, dass historische Ereignisse vorausgesagt werden könnten,
glauben ? Herr Hristiö sass wie gewöhnlich kühl und ernst
da, weder durch mein Erzählen, noch durch die liebenswürdigen
Auslassungen meiner Kollegen aus seiner Ruhe
gebracht. Offenbar war er in ernste Gedanken versanken.
Nach einigen Minuten unterbrach er den Wortschwall meiner
Freunde und Hess sich ungefähr mit folgenden Worten vernehmen
(des genauen Wortlauts entsinne ich mich nicht
mehr):
„Ich weiss nicht, ob und wie sich das mit philosophischen
Theorien reimt, kenne aber einige merkwürdige Fälle,
wo in der That künftige Ereignisse genau so vorhergesagt
wurden, wie sie später eintrafen, selbst in allen Einzelheiten
!"
Und dann erzählte er uns einige durch amtliche Berichte
beglaubigte räthselhafte und ungemein interessante
Dinge, die ich Ihnen jedoch ohne seine Eriaubniss nicht
mittheilen kann.
Eher könnte ich mich erdreisten, von einer anderen
Geschichte zu sprechen, die nicht minder interessant ist
und auch die Frage von einem Schicksal, sowie die, ob die
Zukunft vorausgesagt werden kann, betrifft. Ich thue es
in voller Zuversicht, dass mir Ihre Majestät, die Königin
Natalie, meine Indiskretion verzeihen wird, umsomehr da es
in aufrichtiger und tiefer Erschütterung über die grosse
Tragik ihres Geschicks geschieht. —
Es wird Ihnen bekannt sein, dass ich, nachdem ich in
Bukarest den Vertrag zwischen Serbien und Bulgarien unterzeichnete
, Ende März 1887 in Garasiniris Kabinet eintrat.
Anfangs Mai dieses Jahres schickte eines Tages Königin
Natalie nach mir. Sie wollte einer Familie, für die sie viele
gebeten hatten, eine Gnade erweisen und brauchte dazu
meine Mitarbeit. Wie gewöhnlich sehr gnädig mir gegenüber
, hielt sie mich eine Weile im Gespräche auf. Als eine
intelligente und gebildete Frau verstand sie es, über alles
Mögliche in einer Weise zu plaudern, die jeden bezauberte,
der so glücklich war, mit ihr sprechen zu können.
Ich weiss nicht, wie wir vom Avancement eines kleinen
armen Beamten, der die einzige Stütze seiner Mutter und
der Schwestern war, zur Politik übergingen, von der Politik
zur Litteratur, von dieser zur Philosophie, sodann zur Theo-
»
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1903/0478