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Zippra: Vorausgesagte Ereignisse etc.
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sophie und so zuletzt zu der Frage kamen, ob unser Leben
imvorhinein, wenn auch nur in den Hauptzügen, bestimmt
ist. Da auf einmal erhob die Königin ihre Stimme und
sagte:
„Hören Sie, Mijatovic, ich necke Sie öfters in der
Gesellschaft wegen ihrer Theorien und ihres fatalistischen
Glaubens; nun will ich Ihnen aber einen Beitrag zu Ihrem
Schicksalsglauben geben. Ich stand damals in meinem
fünften oder sechsten Lebensjahre,*) als mich die Mutter zu
meiner Tante ? der Fürstin Murissa, nach Odessa führte.
Eines Tages spielte ich mit meinen Spielsachen in einem
grossen Zimmer des zweiten Stockes, da trat plötzlich meine
Mutter ins Zimmer, fasste mich bei der Hand und sagte:
„Komm, mein Kind, mit mir!" Sie führte mich in den
grossen Salon des eisten Stockwerkes. Da war eine Menge
Damen versammelt und in der Mitte des Salons sass auf
dem Teppich — eine alte Zigeunerin. Die Mutter führte
mich gerade zu ihr hin und sagte:
„Fürchte dich nicht, diese alte Frau ist eine gute Seele,
zeige ihr nur deine Hand!"
Sobald die Alte in meine flache Hand geblickt hatte,
schlug sie sich mit der Hand an die Stirne, dann erhob
sie sich und sah alle Damen der Eeihe nach langsam an.
„Wisst Ihr, was ich sehe?a — rief sie aus, „eine
Krone sehe ich. Das Kind wird eine Krone tragen.
Ich sehe einen Thron! Wie?! Dieses Kind soll
eine Königin werden?!"
Dann fasste sie mich nochmals beim Arm und schaute
noch lange in die offene Handfläche, ünterdesen verabschiedeten
sich einige Damen, die anderen lachten jedoch.
Die Mutter sagte daher zur Alten:
„Nun willst du denn alles verderben mit deiner Ueber-
treibung? Sollte denn zuletzt doch deine Zigeunernatur
an's Licht treten!"
Die Alte sah ununterbrochen kopfschüttelnd in meine
flache Hand und fuhr dann fort:
*) Dem Einwand, dass ein 5—6jähriges Mädchen schwerlich
später eine genaue Erinnerung an ein solches Erlebnis haben könne,
möchte ich im Voraus mit einer solchen begegnen, die mir aus
diesem Anlass meine Frau erzählte. Als 4jähriges Kind sagte ihr
Vater zu ihr, der Maler H. wolle sie und ihre Schwester ganz malen
(das Bild ist noch vorhanden), wobei sie sich auf einen Stuhl stellen
musste. Als nun der Maler zu ihr sagte: „Kleine, Jetzt bist du'
fertig," drehte sie sich um, und als jener fragte, was sie denn noch
wolle, erwiderte sie, sie sei ja erst von vorne gemalt. Weil sie deshalb
von Allen aufgelacht wurde, blieb ihr dieses kleine Vorkommnis
in allen Einzelheiten auch unvergesslich. — Maie*-.
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