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546 Psyehisehe Studien. XXX. Jahrg. 9. Heft. (September 1903.)
„Nein, nein, ich lüge nicht! Dieses Kind wird eine
Krone tragen; sie wird den Herrscher eines ruhmreichen
Landes heiraten, wird wie eine Kaiserin sein, aber . . . .
merket auf, was ich Euch sage: wenn sie ihr 29. oder
30. Lebensjahr erreicht haben wird, kann sein, dass sie
dann sterben wird, oder ich weiss nicht was geschehen
wird, ich weiss nur, dann wird sie verschwinden
, die Krone! Und ihr Tod oder dieser
Verlust ihrer Krone steht in irgend einem Zusammenhange
mit gewissem Holze, Bäumen — weiss nicht, ich sehe es
nicht deutlich!" . . .
Die Königin unterbrach hier ihre Erzählung und sah
mich an, wahrscheinlich eine Bemerkung meinerseits erwartend
. Ich schlürfte jedoch stillschweigend meinen
schwarzen Kaffee, der mir vorgesetzt wurde, und wartete,
ob sie noch etwas zu sagen hätte.
„Sehen Sie", fuhr hierauf die Königin fort, ndie erste
Hälfte jener Prophezeiung, der weder meine Mutter, noch
die Tante Glauben schenken konnten, traf doch wider aller
Erwartung ein. Ob wohl auch die zweite Hälfte in Erfüllung
geht?! Gerade jetzt kommen die zwei kritischen
Jahre. Ist denn die politische Situation eine derartige,
dass ein Thronsturz zu befürchten wäre?"
„Slivnica*) hat nur noch kräftiger gezeigt, in welchem
Maasse das serbische Volk seinem Könige und dem Hause
Obrenovih treu ist", war meine Antwort.
„Und das Volk", erwiderte die Königin, „hat sich als
edel erwiesen, splendide, sublime! Nein, für die Dynastie ist
keine Gefahr vorbanden, den Thron verlieren zu können,
und auch durch keine Revolution werde ich der Krone
verlustig werden. Wenn also auch die zweite Hälfte der
Prophezeiung in Erfüllung gehen soll, so bleibt mir nichts
anderes übrig, als jetzt in einem oder zweien Jahren zu
sterben. Sehe ich denn aus wie eine Erau, die dem Tode
nahe ist?"
Die Königin war damals in der Blüthe ihrer Gesundheit
, Jugend und Schönheit. Sie strahlte förmlich.
„Ew. Majestät", sagte ich, „die Clairvoyantinnen, ob-
schon sie Hellseherinnen* heissen, sehen doch nicht allemal
klar."
„Aber sehen Sie, wie richtig sie den ersten Teil traf!
Es lag doch viel ferner zu glauben, ich werde eines Tages
Königin werden, als dies, dass ich eines Tages durch Tod
*) Sieg der Bulgaren unter Alexander von Battenberg über
Milan. — Eed.
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