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(>70 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 11. Heft. (November 1903.)
zimmer und meldet: „Ein Herr will die gnädige Frau
sprechen lu Ich trete in das anstossende Speisezimmer und
gedenke den Fremden in der Entree zu treffen und in den
Salon zu bitten. Aber der Fremde ist bereits durch den
Salon gekommen und steht mitten im Speisezimmer, verneigt
sich und überreicht mir eine Anzahl kurzer, zusammengerollter
Papiere mit den Worten: „Vom Gericht!" Ich
mustere den Fremden: ein mir ganz unbekannter Mann,
den ich noch nie sah, gross, mit bleichem Gesicht, grossen
dunklen Augen und einem sehr auffallenden Schnurrbart,
der anders getragen war, als hier üblich. Der Mann hat
ausserdem etwas nicht gerade Unheimliches, aber wie an
Mondscheinbeleuchtung Erinnerndes an sich. Ich denke: ist
am Ende die hässliche Briefgeschichte bereits bis ans
Gericht gegangen? Indessen tliue ich aber so, als wüsste
ich von nichts, und frage: „Was habe ich mit dem Gericht
zu thun?'* Antwort: „Ein Grund wird schon vorhanden
sein!4* Der Mann verbeugt sich, ist fort und ich erwache.
Ich erzählte diesen Traum, noch im Bette liegend, einer
Dame, die für einige Tage mein Gast war, und fügte halb
scherzend hinzu: „Heute ist Allerseelen; ob der Blasse
nicht ein Spirit war, der um meine Brief geschieh te weiss ?u
Darauf verstrichen 14 Tage. Dann besuchte ich eine
Familie, deren Bekanntschaft ich yor kurzem gemacht hatte,
zum ersten Mal. Als ich mit der Hausfrau plaudernd in
der Dämmerstunde dasass, meldete die Magd einen Herrn,
dessen Namen ich noch nicht kannte. Mich ärgerte die
Störung. Der Herr, ein Hausfreund, trat im Halbdunkel
herein; ich konnte jedoch seine Züge, da ich etwas kurzsichtig
bin, in der Dunkelheit nicht unterscheiden. Als aber
die Lampe kam, war ich geradezu verblüfft, meinen Traumherrn
vor mir zu sehen. Ich Hess mir aber nichts anmerken
. Beim Nachhausegehen begleitete mich der Herr
und ich nahm eine Gelegenheit wahr, ihn zu fragen, ob er
beim Gericht angestellt sei, was er verneinte. Jetzt im
Mondlicht war die Aehnlichkeit noch verblüffender, weil
das Gesicht so bleich war, wie damals im Traum.
Nach einigen Tagen, während welcher mir der sonderbare
Mann nicht aus dem Sinn kam, wandte ich mich, nachdem
ich zuvor mit einem mir gut bekannten Arzte Rücksprache
genommen hatte, brieflich an den Traumherrn und
bat ihn zu einer Besprechung zu mir. Ich hatte den Wunsch,
den Herrn zu einem hypnotischen Experiment zu bewegen
und hatte dieserhalb bereits mit einem zweiten, als Hypnotiseur
bekannten Arzt Rücksprache genommen. Mein Traumherr
kam zu mir und ich trug ihm meinen Wunsch vor,
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