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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre etc. 675
Ein Schauer fasst mich, Thräne folgt den Thränen,
Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich:
Was ich besitze, seh' ich wie im Weiten,
Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten/
Wenn schon Menschen, wie Goethe einer war, denen
ein unversiegbarer Lebensmuth, eine grossartige Theilnahme
an ideellen Fragen, eine hervorragend glückliche Lebensstellung
etc. doch so viele Thüren offen lassen, weit entfernt
davon sind, persönliche Verluste verschmerzen zu können,
falls ihnen ein gefühlvolles Herz zu Theil wurde, wo sollen
vollends Diejenigen hin, denen jene Hilfsmittel feilen, wo
findet die grosse Menge, wo namentlich die tieffühlende
Frauenwelt Rath und Trost? Um aber diese Art von
Leiden in ihrem wahren Umfange zu taxiren, müssen wir
die Hauptsache unseres Themas nicht aus den Augen verlieren
; wir müssen den Menschen nicht so betrachten, wie
wir ihn wirklich vorfinden, also im Lichte einer thatsächlich
bis jetzt noch nicht ganz aus der Welt geschafften Glaubensund
Hoffensleuchte, sondern wir müssen uns die Frage
stellen, wie sich wohl das Menschengeschlecht nach der
Verwirklichung des materialistischen Ideals in diesem Falle
ohne die Gegenwirkung eines Glaubens an persönliche Fortdauer
oder Wiedergeburt mit den Nöthen des Lebens abfinden
könnte.
Der Umstand, dass einzelne Menschen solches möglich
machen, oder zu machen scheinen, d. h. dass sie nach dem
Verlust theurer Angehöriger und ohne jegliche Hoffnung
auf ein dereinstiges Wiedersehen, anscheinend getröstet und
rüstig fortleben und -wirken, ist nichts weniger als eine
Lösung unserer Frage. Erstens sind selbst solche Individuen,
bei einer ohnehin exzeptionellen Geistesverfassung und
Lebensstellung, im Grunde dennoch nicht mehr ganz das,
was sie waren; d. h. falls sie wirklich einer tiefen Zuneigung
fähig sind, so vermögen sie ihren Schmerz nur dadurch zu
beschwichtigen, dass sie sich mit allen Kräften in Arbeit
und äussere Anregungen stürzen, d. h. also sich eines absichtlichen
Vergessens und Betäubens befleissigen, oder mit
andern Worten, sie bemühen sich, das fertig zu bringen, was
der alte Gardanus auf magischem Wege zu erzielen vorgab:
er versicherte nämlich, es würde ihm plötzlich jede Erinnerung
an den Tod seines Sohnes genommen, sobald er einen
gewissen Edelstein in den Mund nehme. Nun besagt aber
eben die Praxis solcher Trostmittel — sobald sie die einzigen
bleiben sollen —, dass es sich hier nicht mehr um eine
heile und eines freudigen innerlichen Fortschritts
fähige Seelenverfassung handelt.
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