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676 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 11. Hett. (November 1903)
Ist Einem ein Vergessen, ein Abstumpfen oder Betäuben
gelungen, so wird er sieh immerhin gegen das, was
er sonst war oder das, was den fühlenden Mensehen überhaupt
ausmacht, nur wie eine Narbe gegen ein normales
physiologisches Gebilde verhalten. Soll die Bestimmung der
persönlichen Liebe und Zuneigung blos darin bestehen, dass
der Mensch diesen tief begründeten Trieb so lange hege
und grossziehe, bis der tyrannische Zufall noch nicht dazwischen
kam, danach abei alle sich auf das Verlorene beziehenden
Gefühle sofort gewaltsam exstirpire, — so wäie
es ja viel besser, ganz ohne Liebe, wenigstens ohne bleibende,
wie die niederen THere, zu sein, mithin sich einer Ge-
müths-Verfinsterung und -Verhärtung zu be-
fleissigen, anstatt Liebe und Fi Kundschaft erstarken zu lassen.
Kurz, nicht vorwärts, sondern rückwärts müsste es
gehen, unter die Gefühllosen und Egoisten müsste sich jeder
zu stecken suchen, dem Besonnenheit und Voraussicht nicht
ganz fremd sind. Das Beste also, worauf man noch hinzielen
kann, ist ein Ertödten derjenigen Gefühle und Triebe,
die sonst zu dem Besten der Lebensthätigkeit gehörten,
was schon an und für sich kein gerade günstiges Licht auf
die einzige und möglichst bestechend heraussiaffirte Heilformel
der Negationisten wirft.
Aber auch diese Praxis gelingt eigentlich nur in seltenen
Fällen.*) Wir sehen ja so oft, dass selbst Menschen, die
sich nach schweren Verlusten am Stabe des Glaubens und
Höffens insoweit aufzurichten vermögen, dass sie wieder
lebens- und wirkungsfähig werden —, dennoch von ihrem
*) So kommen z. B. Unsterblichkeitsläugner nicht selten in den
Fal], die Unwirksamkeit des von ihnen empfohlenen Mittels gegen
derartige Schmerzen zu erproben, und werden dadurch definitiv oder
wenigstens zeitweise auf eine andere Anschauungsweise gebracht.
So erzählt der bekannte Graf von Kalt in seinen Memoiren, Friedrich
der Grosse sei nach dem Tode seiner Schwester, der Markgräfin
von Bayreuth, in einen fast verzweiflungsvollen Zustand verfallen:
mehrere Monate hindurch war er geneigt, zu glauben, dass der Tod
ein liebendes Wesen nicht zu vernichten im Stande sei, und öfters
wiederholte er die Worte Voltaires: „Ich weiss nicht, aber ich wage
zu hoffen." 1/ass John Stuart Mill in späteren Jahren (nach dem
Tode seiner Frau) seine Ansichten über die religiösen Fragen und
über den Werth des Lebens änderte, beweist der dritte Essay in
seinem hübschen Buch: „Three Essays on Religion". Da findet
sich z. B. folgende sehr bemerkenswerthe Stelle: „To me it seemn
that human life, smale and confined as it is and as, considered
merely in the present, it is likely to remain even when the progress
of material and moral improvement may have freed it from the
greater part of its present calamities, Stands greatly in need of any
wider ränge and greeter height of aspiration, for itseif and its de«
stination". („Three Essays on Religion" 1874. p. 245.)
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