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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre etc. 679
typen, im Gegentheil, das zäheste Pesthalten am Alten
kann, sobald es nicht in engherzigen nationalistischen Egoismus
ausartet, mit der grössten Empfänglichkeit für Neues
und Fremdes einhergehen. Ueberhaupt sind in solchen
Fragen zwei grundverschiedene Dinge auseinanderzuhalten,
die leider öfters verwechselt werden: Der gesunde Fortschritt
erfordert zwar mit der Zeit ein Abstreifen des
wirklich Ausgetragenen, nicht aber ein Ausreissen und Vergessen
desjenigen, was sich unter allen möglichen neuen
Umständen als lebensfähig zu erweisen vermöchte. Ja,
jenes Ausreissen und Vergessen eines einmal erworbenen
Menschentypus lässt sich nicht einmal so vollständig vollziehen
, wie man meist zu glauben geneigt ist. Nicht nur
jegliches sinnenfällige Verschwinden elementarer Kräfte ist
heute für ein bloss unscheinbares erkannt worden (was zu dem
Satz von der Unsterblichkeit der Kraft führte), sondern auch
physische und anthropologische Konvolute zeigen eine solche
Zähigkeit, dass wenigstens von einer vollständigen Assimilation
oder Dissolution des einen Typus durch einen
andern nicht die Rede sein kann. Z. ß. bei einem anscheinend
spurlosen Verschwinden einer Völkerschaft inmitten
einer anderen, kann die fortwirkende Anwesenheit
der ersteren auf anthropometrischem Wege noch nach Jahrtausenden
nachgewiesen werden.*) Es verhält sich hier
ungefähr wie mit dem individuellen Wesen. Die Veränderungen
, welche der Mensch im Leben durchmacht, können
so gross und so allseitig sein, dass es nachgerade scheint,
der vorgeschrittene Mensch und das Kind, welches jener
war, seien zwei verschiedene Wesen. Und doch bleibt ein
unveräusserlicher, wahrhaft individueller Kern bestehen, der
jenen gegebenen Menschen inmitten aller von ihm durchgemachten
Metamorphosen als eigenartiges Sonderwesen
kennzeichnet. Nicht nur dasjenige, was ihm im Gedächt-
niss haftet, unterscheidet ihn aufs Schärfste von allen
anderen Individuen derselben Gattung, selbst wenn es sich
um den Vergleich mit einem Zwillingswesen von wunderbarer
Aehnlichkeit mit ihm selbst handelte: es giebt auch
äusserliche, anthropologische Merkmale, die das Einzelwesen
unverkennbar charakterisiren, ja es kann ja gar nicht anders
sein, da jeglichem Einzelwesen sein ganz spezieller Platz in
Baum und Zeit zukommt, welcher dasselbe kennzeichnet,
*) So wurden z. B. die anthropologischen Elemente des von
Karl martell geschlagenen Maurenthums von Dr. Collignon in der
Bevölkerung des heutigen Frankreichs aufgefunden. Im Allgemeinen
sind derartige Thatsachen denjenigen, welche uns die Embryologie
liefert, verwandt.
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