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712 Psychische Studien. XXX. Jahr*. IL Heft. <November 1903.)
sehiedentlich nachzuweisen suchten (so im Briefkasten des Anril-
heftes vom Jahrg. 1901, S. 250), der philosophisch geschulte, logisch
folgerichtig denkende Forscher auch diesen so nahe liegenden und
scheinbar unwiderleglichen „Gegenbeweis" der Herren Büchner, Hüchel
und Genossen als unbegründet zurückweisen. Denn gerade die von
Lamarck, Göthe, Darwin begründete Entwicklungslehre führt, konsequent
durchgedacht, mit grösster Wahrscheinlichkeit zu der Annahme eines
unsichtbaren Lebe wesenkeims, der, als transszendentaler Kern
der sich kontinuirlich fortentwickelnden Individualität durch
die ganze organische Welt hindurch mit Erhaltung, bezw. immer
weitergehender Differenzirung Beine* psychischen Lebenskraft
in einer endlosen Reihe immer zweckmässiger und vollkommener
ausgeprägter Verkörperungen zu zunehmend lellerem Bewusstsein
gelangt und dessen Evolution auf unserem Planeten im Menschen
einen — wohl nur vorläufigen — Abschluss rindet. Wenn also in
diesem Sinne auch die Thierseelen, ja schon die Pflanzenseelen als
unzerstörbar zu denken sind, so würde doch wohl erst im
Menschen, vermöge seiner (N.B.?) durch die Sprache allmählich erworbenen
Fähigkeit klaret* SelHtbewusstseins, die Möglichkeit
gegeben sein, sich nach Abstreifung der letzten irdischen Hülle eben
an dieses — im graduellen Unterschied von Pflanze und Thier —
bewusst verlaufene Menschenleben in einer noch höheren Daseinsform
zurückzuerinnern und eventuell auch aus der Welt uns jetzt
nicht vorstellbarer „Aetherwesen", dank der noch fortbestehenden
Bande sympathischer Liebe oder auch quälender Gewissensbisse und
an apathischer Beziehungen, in diese irdische Daseinssphäre telepathisch
und telekinetisch einzuwirken, während aus den früheren (mehr oder
weniger unbewusst verlaufenden) Entwickelungsstadien möglicher
Weise so wenig wie im Traum gegenüber dem hellen Tagesbewusst-
sein ein deutliches Bewusstsein der Identität der Persönlichkeit
übrig bliebe. Dass eine durch fortschreitende
Differenzirung neu gewonnene Kraft (wie demnach die des
im menschlichen Geiste mit der sprachlichen Fixirung der Gedanl-en
und Erinnerungen selbstbewusst gewordenen Naturwiilens) sich nicht
wieder rückwärts entwickelt oder gar spurlos schwindet, vielmehr
«sich erhält, ja immer höherer und feinerer Leistungen fähig wird,
von denen unser irdisches Vorstellungsvermögen möglicher Weise
keine Ahnung hat, — diese Hypothese liegt doch lediglich in der
Verlängerungslinie der Darwinschen Theorie und erscheint als die
nächstliegende Folgerung aus dem von der exakten Naturforschung
konstatirten „Gesetz1* der mit der Unzerstörbarkeit der
Materie zusammenhängenden Erhaltung der Energie,
wonach überhaupt eine einmal erworbene „Kraft" niemals und
nirgends wieder verloren geht. — Wir verweisen im Uebrigen auf
die gründliche Widerlegung dieses rein negativistischen Standpunkts
durch die gegenwärtig in den „Psych. Stud." zum Abdruck kommende,
uns als Vermächtniss hinterlassene Abhandlung unseres f Mitarbeiters
v. Seeland und würden es schon im Hinblick auf die leicht vorauszusehenden
praktischen Folgen für geradezu unverantwortlich
halten, duren derartige übereilte, bezw. oberflächliche und logisch
keineswegs sichere oder unbedingt notwendige Schlussfolgerungen
extremer Verneiner, mögen sie auch von „wissenschaftlichen
Autoritäten" gleichsam ex cathedra urbi et orbi kundgegeben
werden, einen — freilich nicht an konfessionelle Dogmen zu bindenden
— religiösen Glauben zugleich mit der Hoffnung auf eine zukünftige
Ausgleichung, bezw. der Erwartung einer jenseitigen Verantwortung
aus den Herzen der heranwachsenden Jugend schon in
der Schule gewaltsam ausrotten zu wollen. Maier.
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