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730 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1903.)
umherliefen. Da das Gesicht sich von den gewöhnlichen
so bedeutsam unterschied, behielt sie es gut im Gedächtniss.
Einige Wochen darauf ereignete sich das Schiffsunglück
auf der Unterelbe, bei dem der Dampfer Primus seinen Untergang
fand. Ein anderes Mal schaute sie eine Geistergestalt
mit einer brennenden Lampe in der Hand, die zu ihr die
Worte sagte:
„Liebe Schwester, sei bereit
Und halte Thür und Thoro weit/
Kurze Zeit darauf brannte in der nächsten Nachbarschaft
ein Wohnhaus nieder und in dem Hause der Seherin
wurde ein Theil der geretteten Einrichtungsgegenstände
untergebracht, so dass noch in später Stunde Thür und
Thor weit offen standen.
Ein anderes Mal erhielt die Seherin Besuch von einer
Freundin, vor der sie plötzlich einen Sarg stehen sah. Sie
machte derselben auch hiervon Mittheiiung. Kurze Zeit darauf
starb eine nahe Verwandte der betreffenden Freundin, die
damals noch gesund gewesen war. —
Ein wissenschaftlicher Skeptiker nach Art des Herrn
Professors Dessoir wird dergleichen für blosen Zufall halten
und die Frau für eine Kranke erklären, die an Gesichtsund
Gehörshalluzinationen leide. Was die Gesundheit der
Seherin anlangt, so ist dieselbe allerdings eine zarte, trotz
kräftigen Aussehens. Als armer Leute Kind und einer
zahlreichen Familie angehörend, hat sie in frühester Jugend
schon hart und wohl über ihre Kräfte hinaus arbeiten
müssen, so dass sie selbst sagt, sie ermüde leicht und vermöge
nicht das zu leisten, was andere Frauen ihres Alters
zu Stande bringen. Auch hat sie nach ihrer Verheirathung
mehrere sehr schwere Geburten durchmachen müssen»
Glücklicher Weise lebt sie in Verhältnissen, die es ihr
gestatten, sich zu schonen.
Die Eigenschaft des Hellsehens hat sich bei ihr ein-
* gestellt nach den Behandlungen durch einen Magnetiseur,
den sie aus Gesundheitsrücksichten aufgesucht hatte, was
lür eine wissenschaftliche Beurtheilung von besonderem Inter-
€sse sein dürfte.
In geistiger Hinsicht macht sie, wie schon gesagt,
durchaus keinen krankhaften Eindruck. Im Gegentheil halte
ich sie cach meinen Wahrnehmungen für eine ausser-
gewöhnlich intelligente, geistig geweckte Frau, welche die
abnormen Erscheinungen ohne alle phantastische Voreingenommenheit
betrachtet und jede Gelegenheit benutzt,
um sich zu unterrichten und sich selbst ein Urtheil zu
bilden.
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