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v. Seeland: Die Logik der materialistischen Lehre etc. 747
Zuguterletzt müssen wir auch hier wieder bedenken,
dass, falls es einen sittlichen Fortschritt giebt, was doch
nicht zu leugnen ist, besagtes Unrecht, je weiter es geht,
desto grösser und schreiender werden muss. Sträubt sich
unser Gleichgewichtsgefühl dagegen, wenn einen ganz gemeinen
, ja verdorbenen und einen sittlich hochstehenden
edlen Menschen ein und dasselbe Schicksal trifft, so können
wir nicht umhin, einzusehen, dass in dem Maasse, als die
Spezies Mensch im Ringen nach Tugend und Weisheit an
Verdiensten zunehmen wird, auch das Missverhältniss zwischen
diesen und der sich immer gleich bleibenden Brutalität des
Schicksals breiter klaffen muss.
Bei dieser Gelegenheit müssen wir jedoch eines moralisch
-philosophischen Einwands gedenken, welcher dem Postulat
einer Fortdauer von gewisser Seite schon von Alters her
entgegengehalten worden ist und durch den bewiesen werden
soll, dass der Mensch schon in diesem Leben sein volles
Glück in den Händen habe: es heisst nämlich, die Tugend
schliesse ja ihren Lohn schon in sich selbst, folglich bedürfe
der Tugendhafte keiner dereinstigen Belohnung, und sei
überhaupt eine Moralität, die auf Lohn hofft, ziemlich verdächtig
. Allerdings ist diejenige Sittlichkeit die höhere,
welche das Gute um des Guten willen, nicht um eines
äusserlichen Gebots oder verheissenen Lohnes halber thut,
was namentlich Spinoza überzeugend zu beweisen sich be-
fleissigte; denn sowohl Tugend als Laster führen ihren
inneren oder natürlichen Lohn mit sich, erstere in Gestalt
des als höchstes Gut erscheinenden Seelenfriedens,
letzteres in der von Gewissensbissen, Angst vor Strafe, Gesundheitszerrüttung
etc. Nur wird bei diesen an sich schönen
und richtigen Betrachtungen von materialistischer Seite meist
derjenige hochwichtige Umstand übersehen, dass eben dieser
natürliche Lohn der positiven und der negativen Sittlichkeit
grösstentheils den Thaten nicht unmittelbar folgt, und
dass selbst in jenen seltenen Fällen, wo That und natürlicher
Lohn adaequat sein sollten, daraus noch keineswegs
der Schluss folgen würde, dass nunmehr überhaupt keine
Fortdauer nothwendig sei, da der betreffende Mensch bereits
das ihm Gebührende in Empfang genommen habe.
Gesetzt, von zwei Menschen, die sich unter Todesgefahr
zu Verkündern der Wahrheit und Fürsprechern der Unschuldigen
auf warfen, — ist der eine ungläubig, der andere
aber hofft auf ein jenseitiges Leben; die Last, welche der
Erstere hienieden trägt und die Bitterkeit des Kelches,
den er schliesslich leert, ist sicherlich die grössere von
Beiden.
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