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754 Psychische Studien. XXX. Jahrg. 12. Heft. (Dezember 1903.)
Emst ist, gar wohl gelten. Die Erfüllung aber, die ihm
fehlt, ist die Anschauung der zwei grossen Triebräder aller
Natur, der Begriff von Polarität und von Steigerung.
Vergegenwärtigt man sich die hohe Ausführung, durch
welche die sämmtliehen Naturerscheinungen nach und nach
vor dem menschlichen Greiste verkettet worden, und liest
alsdann obigen Aufsatz, von dem wir ausgingen, nochmals
mit Bedacht, so wird man nicht ohne Lächeln jenen Komparativ
, wie ich ihn nannte, mit dem Superlativ, mit dem
hier abgeschlossen wird, vergleichen und eines fünfzigjährigen
Fortschreitens sich erfreuen,*1 Dieses Bekenntniss ist ausserordentlich
werthvoll, weil die in dem Aufsatz „Die Natur"
(s. „Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen'*) ausgesprochenen
Ansichten von Materialisten mit besonderer Vorliebe ausgeschlachtet
werden. So hat z. B. vor noch nicht langer
Zeit, als der Streit um „Babel und Bibel" heftig entbrannt
war, die „Zukunft" jene Jugendarbeit Goethe'* unter dem
eigenmächtigen Titel „Der Gott Goethes" abgedruckt und
damit eine Bombe unter die Streitenden werfen wollen.
Dass der reife Goethe diesen angeblichen „humoristischen,
sich selbst widersprechenden" Gott „nicht ohne Lächeln44
betrachtet hat, ist von der antireligiösen „Zukunft" natürlich
nicht mitgeteilt worden.*)
Antireligiöse Tendenzen mit Goethe fördern zu wollen,
dazu gehört eine Unwissenheit oder eine Dreistigkeit, die
nicht stark genug gerügt werden können. Ich möchte bei
dieser Gelegenheit ein Wort Nietzsche % über Goethe zurückweisen
, nachdem ich jetzt die gern zitirte Stelle vom ,,leidigen
Marterholz« im Original gelesen. Im 51. Aphorismus der
„Götzendämmerung" heisst es: »Goethe ist der letzte Deutsche,
vor dem ich Ehrfurcht hege .... Auch verstehen wir uns
über das Kreuz." Warum Nietzsche, nebenbei bemerkt,
gerade vor Goethe noch Ehrfurcht hatte, ist schwer einzusehen
, da dieser weder Atheist, noch Immoralist, noch
Antimystiker war; wahrscheinlich hat es ihm die Bewunderung
Napoleon'* von Seiten Goethe's angethan. Wenn
aber Nietzsche sagt, dass er und Goethe sich „über das
Kreuz verstehen", dann soll dies wohl heissen, dass Goethe
die Ansichten Nietzsche'$ über das Christenthum, als den
*) Zum Gebrauch des Epithetons „antireligiös11 sehe ich mich»
abgesehen von anderen Gründen, namentlich deshalb veranlasst, weil
ich vom Herausgeber der „Zukunft" über den Werth der Religion
in ziemlich durchsichtiger Weise belehrt worden bin. Ich hatte in
einem auf den Rothe - Prozess bezüglichen Brief an ihn von der
Religion als dem „Werthvollsten", das es giebt, gesprochen, während
der (in der Nummer vom 9. Mai 1908) gedruckte Brief den vielsagenden
Zusatz „für Viele Werth vollsten" enthielt. S.
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