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16 Psychische Studien, XXXI. Jahrg. i. Heft. (Januar 1904)
Möglichkeit geistigen Schaffeiis unter Inspiration wird dadurch
leichter begreiflich. Im Uebrigen sind unter Inspiration
entstandene Geisteserzeugnisse auf dem deutschen
Büchermarkt schon erschienen: ein von Frau Eyseil-KU*
burger, der Gemahlin des bekannten Dichters Victor Blütk-
gen, herausgegebener Band Gedichte unter dem Titel „Klänge
aus einem Jenseits", deren geistiger Urheber sich Otto Dalberg
nennt.*)
Auch auf dem Gebiete der Malerei sind bereits
unter bewusster Inspiration gereifte Kunstscl öpfungen bekannt
. Ihr Urheber August Machner, ehemaliger Matrose
und Gerbergeselle, besass weder Malteclmik, noch Kenntniss
der Farbenmischung, als er zu malen begann; aber seine
Bilder, die längere Zeit in der „Botho-Ausstellung" zu
Berlin dem Urtheile Sachkundiger preisgegeben waren,
unterscheiden sich von Dilettanten-Versuchen ganz auffällig.
Die eigenartigen, sehr geschmackvollen Tapetenmuster, die
aus dem Atelier Machner's hervorgehen, werden von dem
inspirirten Künstler mit beiden Händen gleichzeitig
gemalt, ein Umstand, der jedenfalls auch darauf
schliessen lässt, dass der Maier während des Schaffens
unter fremdem Einflüsse steht. —
Am Schlüsse dieser kurzen Einleitung sei endlich noch
daran erinnert, dass schon vor Jahrtausenden von der
dichterischen Begeisterung als von einem gewissen Verzückungszustand
e gesprochen und geschrieben worden
ist, und dass der grösste Poet Englands, der unvergleichliche
Shakespeare, dies geradezu mit den Worten
kennzeichnet: „Des Dichters Aug', in holdem Wahnsinn
rollend/' Es ist selbstverständlich, dass hier nicht Wahnsinn
im gewöhnlichen Sinne gemeint ist, sondern dass damit
ein ekstatischer Zustand bezeichnet werden soll, in dem
sich der Geist der gemeinen Wirklichkeit entrückt fühlt
und die Fähigkeit des „Schauens" für kürzere oder längere
Zeit wieder erlangt. Der Dichter ist ein ^Sehera, und
Apollo, der Gott der Musen, der Schirmherr der Sänger,
sagte durch den Mund der jungfräulichen Priesterinnen in
seinem Heiligtum zu Delphi die Zukunft voraus. Lassen
sich daraus auch nicht Schlüsse in exakt wissenschaftlichem
*) Ein ähnliches, den Eindruck der „Inspiration* machendes
Buch, über welches wohl unser hochverehrter Herr Litteraturbericht-
erstatter in Bälde referiren wird, ist neuestens unter dem Titel
„Evoe* von Marie 8chmidt-Knorr veröffentlicht worden: eine für den
Psychologen, wie für den Aesthetiker gleich fesselnde Sammlung
medianimer Gedichte, bei welchen namentlich der Wechsel des
Vorzüglichen und Eigenthümlichen mit Mangelhaftem und Formlosem
ganz merkwürdig erscheint. — Ked.
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